Beben in der Türkei

Mindestens 84 Menschen sterben bei einem schweren Erdstoß im Osten des Landes. Über 100 Schüler eines Internats sind noch verschüttet

ISTANBUL taz ■ Nach dem schweren Erdbeben in der Westtürkei vor knapp vier Jahren kam es in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, diesmal im Osten, erneut zu einem schweren Erdstoß mit 6,4 Punkten auf der Richterskala. Nach offiziellen Angaben starben mindestens 84 Menschen, rund 400 wurden teils schwer verletzt geborgen. Vor Ort ist aber bereits von 150 Toten die Rede und die Anzahl der Todesopfer steigt fast stündlich.

Das Zentrum des Bebens ist die Stadt Bingöl im ostanatolischen Hochland, einem Gebiet, das überwiegend von Kurden bewohnt ist. Während in der Stadt zwar einige Häuser und auch eine Moschee zusammenstürzten, spielte sich das eigentliche Drama in einem Vorort rund 8 Kilometer von Bingöl entfernt ab. Dort stürzte ein staatliches Internat zusammen und begrub 198 Schüler im Alter von 6 bis 14 Jahren in den Trümmern. Bis gestern Nachmittag konnten 71 gerettet werden, 25 Leichen wurden geborgen, die anderen 102 Schüler waren weiter verschüttet.

Erschwert werden die Rettungsarbeiten dadurch, dass die beiden Schlafsäle im Erdgeschoss sind. Aus den umliegenden Dörfern herbeigeeilte Eltern machten die Behörden Bingöls dafür verantwortlich, dass der erst vor vier Jahren fertig gestellte Bau wie ein Kartenhaus zusammengebrochen war. Tatsächlich wurde gegen die Baufirma Bozkus Insaat wegen Korruption ermittelt. Sie soll die erhaltenen Gelder teilweise nicht für den Bau verwendet haben. Mitglieder der Rettungsmannschaften sagten, nur einige Stahlschränke im Schlafsaal und in den Schulräumen hätten beim Einsturz Hohlräume geschaffen, in denen Kinder bis jetzt überlebt hätten.

Auch die meisten anderen eingestürzten Häuser sind öffentliche Bauten, was ebenfalls auf ausgedehnte Korruption schließen lässt. Das Internat gehört zu den Instituten, die der türkische Staat überwiegend Ende der 80er- und in den 90er-Jahren einrichtete, um kurdische Kinder aus Dörfern, die weiter als 5 Kilometer von der nächsten Schule entfernt sind, zu unterrichten. Kurdische Organisationen beklagen, dass es nur darum gehe, die Kinder ihrem Umfeld zu entfremden und im Sinne des Staates zu assimilieren. Die Qualität der Schulen sei niedrig, die Erfolgsquote der Schüler gering.

Ministerpräsident Erdogan flog gestern sofort zu dem Unglücksort, um den Angehörigen zu kondolieren und sich vom Fortgang der Rettungsarbeiten zu überzeugen. Obwohl in Bingöl und Umgebung Rettungsmannschaften schnell zur Stelle waren und auch die Armee sofort mit anpackte, wusste man bis gestern noch nicht, wie es in den umliegenden Dörfern aussah, da Telefonleitungen zerstört waren und auch Handys nicht funktionierten. Aus Angst vor Nachbeben gingen viele Einwohner von Bingöl nicht mehr in ihre Häuser. Erst 1971 starben in derselben Region 900 Menschen durch ein Beben. JÜRGEN GOTTSCHLICH