Land der Stauseen

Die Schweiz erzeugt mit Wasser den Strom von zehn Kernkraftwerken. 480 Wasserkraftwerke kommen auf eine Leistung von 300 Kilowatt und mehr, 170 erreichen mehr als 10 Megawatt

Die Schweiz bezieht 60 Prozent ihres Stroms aus Wasserkraft – europaweit einer der Spitzenplätze. Doch nach Jahrzehnten des Kraftwerkbaus stößt diese intensive Nutzung von Flüssen und Bächen an ihre Grenzen. Die Energieversorgungsunternehmen müssen sich jetzt den Argumenten der Umweltschützer beugen und sich von weiteren Ausbauprojekten verabschieden.

Möglich ist die überaus intensive Nutzung der Wasserkraft ohnedies nur aufgrund der geografischen Besonderheiten des helvetischen Territoriums: Große Flüsse wie Rhein und Rhone haben ihren Ursprung in den Alpen und fließen zunächst durch die Schweiz. Auch an ihren Zuflüssen reiht sich oft ein Kraftwerk ans andere. Die Emme beispielsweise wird neunmal gestaut, ehe sie in die Aare mündet. Das Wasser des Hochrheins rauscht zwischen Bodensee und Basel zwölfmal durch eine Turbinenkammer. 480 Schweizer Wasserkraftwerke kommen auf eine Leistung von 300 Kilowatt (kW) und mehr, 170 weitere erreichen immerhin mehr als 10 Megawatt (MW).

Die leistungsstärksten Kraftwerke befinden sich jedoch alle im Hochgebirge. Aufgrund des enormen Gefälles lassen sich hier auch mit kleinen Gebirgsbächlein beträchtliche Energiemengen erzeugen – vorausgesetzt, man füllt mit den Bächen große Stauseen und lässt das Wasser dann hunderte von Metern in die Tiefe und dort auf die Turbinen stürzen.

Das mit Abstand größte Wasserkraftwerk der Schweiz ist das im Wallis gelegene Grande Dixence mit einer installierten Leistung von 2.000 MW. Er wird unterirdisch aus 35 Gletschern gespeist. Der Schweizerische Wasserwirtschaftsverband betont jedoch, dass die Stauseen im Schweizer Alpenraum im internationalen Vergleich „verhältnismäßig klein“ seien. So habe das Kraftwerk Itaipu in Brasilien eine sechsmal größere Kapazität als Grande Dixence. Auch die 400 Millionen Kubikmeter Wasser hinter der 285 Meter hohen Staumauer von Grande Dixence seien im Vergleich zu den 182.000 Millionen Kubikmetern des Kakhovskaya am ukrainischen Dnjepr eher gering.

Dennoch produzieren allein die Speicherkraftwerke so viel Strom wie die fünf Schweizer Atomkraftwerke. Der große Vorteil der Speicherkraftwerke im Alpenraum liegt in ihrer Flexibilität. Wenn weniger Strom gebraucht wird, wird das Wasser durch die unterirdischen Stollen in den Stausee hochgepumpt, bei hohem Energiebedarf stürzt es wieder in die Tiefe. Die Speicherkraftwerke können innerhalb von Minuten in Betrieb genommen werden und decken vor allem den Strombedarf während der Tagesspitzen. Zudem wird das im Frühling und Sommer besonders fleißig plätschernde Nass der Alpenbäche in den Stauseen aufgefangen. Zur Stromerzeugung eingesetzt wird es dann vorzugsweise im Winter, wenn der Bedarf am größten ist.

Da laut Schweizer Verfassung die Kantone das Verfügungsrecht über die Wasserkräfte haben, bezahlen die Kraftwerksbetreiber an die Standortkantone für ihre Sondernutzungsrechte einen Wasserzins. Die Energieversorger sind überwiegend in der Hand der Städte und Kantone in den Ebenen, die auch den größten Strombedarf haben. Für Bergkantone wie Wallis, Graubünden oder Tessin und ihre Gemeinden bedeutet der Wasserzins der Konzessionäre eine erhebliche Einnahmequelle.

Dennoch wurde es in den vergangenen Jahren für die Kraftwerksbetreiber immer schwieriger, ihre Erweiterungspläne oder gar den Bau neuer Talsperren durchzusetzen. Besonders deutlich bekamen dies die Berner Kraftwerke BKW und die Städte Bern, Basel und Zürich zu spüren, die zusammen die Kraftwerke Oberhasli (KWO) im Berner Oberland betreiben. Im Gebiet um den Grimsel- und den Sustenpass hat die KWO mit sechs Stauseen, neun Kraftwerken und 105 Kilometer Wasser führenden Stollen zwischen 1920 und 1968 den größten Kraftwerkskomplex der Schweiz errichtet. Möglich wurde das nicht nur aufgrund erheblicher Höhenunterschiede, sondern auch wegen des soliden Grimselgranits, der erst die gefahrlose Auffüllung von Speicherseen erlaubt.

Das Wasser, das zu einem großen Teil aus den Gletschern der Gegend stammt, treibt, von den oberen Stauseen „Oberaar“ und dem Trübten- und Engstlensee kommend, zunächst die Generatoren der Kraftwerke Fuhren und Grimsel 1 und 2 an. Über mehrere Stufen, Stauseen und weitere Kraftwerke landet es zum Schluss 1.700 Meter tiefer in der Aare. Der Clou bei diesem Kraftwerkskomplex sind die Pumpen, mit denen das Wasser in verbrauchsarmen Zeiten wieder in die höher gelegenen Seen gepumpt werden kann.

Mit dem Projekt „Grimsel West“ wollte die KWO Ende der 80er-Jahre unter anderem mit einer weiteren Staumauer von 200 Meter Höhe das Volumen des Grimselsees vervierfachen. Nach 12-jähriger Auseinandersetzung scheiterte das 3-Milliarden-Franken-Projekt 1999 am Widerstand von Naturschützern und Einheimischen. Ihnen lagen vor allem das Gletschervorfeld, die geschützte Moorlandschaft „Sunnig Aar“ und der Zirbelkieferwald am Herzen, die durch die Vergrößerung des Sees überschwemmt worden wären. „Damit wäre eine der letzten alpinen Landschaften verschwunden“, erklärt Katharina von Steiger von der Initiative Grimselverein. „Restwasser der genutzten Bäche wäre noch spärlicher geworden.“

Über das abgespeckte Projekt „Grimsel Plus“, bei dem lediglich die bestehenden Staumauern des Grimselsees um 23 Meter erhöht werden würden, traten die Umweltschutzverbände Pro Natura, der WWF und der Grimselverein mit den Kraftwerksbetreibern zunächst in einen Dialog. Gefordert wurden von der KWO Ausgleichsmaßnahmen wie die Renaturierung eines kanalisierten Aare-Abschnitts. Am 20. März dieses Jahres wurde jedoch auch dieser Dialog abgebrochen.

„Wasserkraftwerke sind nicht per se ökologisch“, erklärt Jan Steiger von Pro Natura. Angesichts der Auswirkungen von Kraftwerken auf den natürlichen Fließcharakter der Flüsse oder auf das Austrocknen betroffener Flussbette beeinträchtige auch die Wasserkraft das Leben im und am Gewässer. Das Verschwinden der Lachse aus Rhein und Aare sei nur das einschlägigste Beispiel. „Die Kraftwerke und Stauseen, die bereits bestehen, akzeptieren wir“, erklärt Steiger. Weitere Überflutungen und Stauprojekte würden die Umweltschützer aber nicht mehr hinnehmen. In den 90er-Jahren mussten einige Betreiber ihre Ausbaupläne aufgrund des Widerstandes der Naturliebhaber begraben, auf Eis legen oder abspecken. Inzwischen gilt die Stromgewinnung aus Wasserkraft in der Schweiz generell als ausgereizt. ANITA MERKT