Alles unter Kontrolle?

Die algerische Sahara ist in Verruf geraten, seit dort im letzten Jahr Touristen entführt und monatelang festgehalten wurden – zum Schaden der Agenturen vor Ort und der lokalen Wirtschaft. Eine Wüstentour von Tamanrasset nach Djanet – beschützt von Tuareg, beäugt von der Obrigkeit

VON GÜNTER ERMLICH

„Wenn Sie dich entführen, zahlen wir keinen Cent Lösegeld“, musste sich Ernst von seinem Nachbarn anhören, bevor er in die algerische Sahara fuhr. Jetzt sitzt Ernst im Schatten einer Akazie in der Wüste und schlürft den Mittagstee. Der Mittfünfziger ist kein Abenteurer, sondern ein gestandener Beamter der Deutschen Telekom. Er hat sich keine Sorgen gemacht, hat kein Angstgefühl gehabt, denn mit einer organisierten Reisegruppe, begleitet von einheimischen Tuareg-Führern, da könne doch nichts schief gehen. Im Januar ist Ernst mit dem Münchner Trekkingveranstalter Hauser Exkursionen in die südalgerische Sahara gefahren. Die erste Gruppe von Deutschen seit den Entführungen von vor einem Jahr.

Tamanrasset: GPS N 22°47,272’ / O 5°31,160’

„Probleme gibt es nur wegen der Individualtouristen und Abenteurer“, sagt Maulay Abdelmalek. Viele hätten in ihren Geländewagen das Essen von zu Hause mitgebracht, dafür den ganzen Müll in der Wüste zurückgelassen und obendrein Mineralien und vorgeschichtliche Artefakte wie Pfeilspitzen und Reibschalen illegal ausgeführt. Und unausgesprochen, aber deutlich hörbar macht der Direktor des Nationalen Tourismusbüros im Departement Tamanrasset die „Selbstfahrer“ auch für die Entführungen im letzten Jahr mitverantwortlich. Schließlich seien nur Einzelreisende gekidnappt worden.

Seit Dezember brauchen Individualtouristen deshalb für ein Visum die „Einladung“ einer algerischen Reiseagentur, sie werden von Führern der Agentur an der tunesisch-algerischen Grenze abgeholt und auf ihren Routen durch die Sahara begleitet. Dass diese neue Praxis der Reglementierung manchen eingefleischten Saharafreunden nicht schmeckt, wurde bald klar, als sich einige Deutsche mit drei Iveco-Lastern von ihren Begleitern absetzten. Das algerische Militär spürte sie mit Hubschraubern auf, erzählt der Tourismusdirektor, sie mussten eine Strafe zahlen und wurden des Landes verwiesen.

Assekrem: GPS N 23°17,867’/ O 6°19,988’

Wir lassen uns gerne führen, von saharakundigen Tuareg, dem Nomadenvolk der Wüste. „Tuareg“ bedeutet auf Arabisch „von Gott Verstoßene“, sie selbst nennen sich „die Freien“. Die Tuareg kennen die Wege und Pisten, aber auch die Risiken und Gefahren. Sie brauchen weder Landkarten noch das Satelliten-System GPS, haben aber zur Sicherheit ein Satellitentelefon dabei. Vier Fahrer, zwei Köche und Seddik, der Deutsch sprechende Führer vom Stamm der Kel-Tadalet, umsorgen uns.

Von Tamanrasset fahren wir mit vier Geländewagen in den Hoggar. Das höchste Gebirge der algerischen Sahara, Gebirgswüste, ein gewaltiges Vulkanmassiv. Wild, rau, abweisend. Schwarze Lavasteine bedecken die weite Hochebene, vereinzelt ragen aus dem Boden Basaltsäulen und Felsendome. Im Affentempo brettern unsere Fahrer über die knochentrockene „Wellblechpiste“ der Mondlandschaft, zwei aufgescheuchte Gazellen machen sich rechtzeitig aus dem Staub.

Bitterkalt ist die Nacht im Schlafsaal der Berghütte am Fuß des Assekrem, was in der Tuareg-Sprache Tamaschek heißt und so viel wie „gefrorene Finger“ bedeutet. In der Morgendämmerung pilgern wir den Geröllweg zum Gipfel auf 2.728 Meter. Oben steht eine Wetterstation mit Solarzellen. Nur sekundenlang wirft die Sonne ihre ersten Strahlen auf die beiden nahen „Tezouai“ – Felstürme, die Kamelhöcker ähneln. Ein magischer Augenblick – für Augen und Kameralinsen. Schon vor knapp 100 Jahren schwärmte Pater Charles de Foucauld von der wunderschönen Aussicht, „diesem Wald von Felsnadeln und Bergspitzen“, deren Einsamkeit und Wildheit dem Menschen zeige, dass er nur „wie ein Wassertropfen im Meer“ sei. Jetzt bewohnen drei Pater vom Orden der Kleinen Brüder Jesu die Foucauld’sche Klause. Sie leben von den Spenden der Besucher, zurzeit kommen nur wenige. „Möchten Sie eine Messe?“, fragt Bruder Alain. Der hagere, selbstgenügsame Mann kam vor 21 Jahren aus der Bretagne auf den Assekrem. In der winzigen Felsenkapelle liest er, vom spanischen Bruder Ventura unterstützt, die Messe auf Deutsch und Französisch.

Tin Akachaker: GPS N 21°37,544’/ O 6°25,975’

Wir wandern ein Stück querwüstenein. Das machen wir morgens immer, bis die Tuareg die Siebensachen des Nachtlagers und die Küchenutensilien ins Versorgungsauto verstaut und uns eingeholt haben. „Das sieht aus wie der Hörnli-Grat vom Matterhorn!“, ruft Günter. Seddik, der Chef der Begleitmannschaft, gibt uns Lektionen in Wüstenflora. Er reißt ein Blatt des Satansapfels ein, dickflüssige Milch quillt heraus. „Wenn ein Kamel davon fressen würde, wäre es auf der Stelle tot.“ Hunderte von gelb-grün genoppten Kugeln liegen auf dem Weg, wie große Tennisbälle auf einem riesigen Sandplatz. Koloquinten, wilde bittere Kürbisse, heißen die resistenten Wüstenpflanzen. Später machen wir bei einer Nomadenfamilie Halt. Sie hat ein Fleckchen Wüste fruchtbar gemacht, mit Hilfe eines Brunnens und einer Wasserpumpe einen Gemüsegarten angelegt: Tomaten, Möhren, Klee wachsen auf den Beeten, Mais- und Hirsekolben trocknen auf einem Holzdach. Wir füllen Wasser aus dem Brunnen in die Kanister und nehmen grünen Salat mit.

Tin Akachaker im Tassili (Bergland) des Hoggar ist ein Lagerplatz zum Träumen. Ein abgeschotteter Kessel, umgeben von schroffen Felswänden und eingeblasenen Dünen. Was ist das Ritz und das Grand Hyatt gegen diese Fünf- Sterne-Herberge unter freiem Himmel? Die Tuareg sind ein eingespieltes Team, jeder Handgriff sitzt. Im Nu parken sie die Landcruiser in U-Form, errichten darin einen Windfang, legen Schaumstoffmatratzen und eine Wachstischdecke in den Sand, bauen die Zelte auf. Fertig ist das Camp.

Nach dem Essen setzen wir uns ans Lagerfeuer und trinken grünen Tee aus Gläsern. Eine hoch ritualisierte Zeremonie mit drei Aufgüssen: Der erste ist bitter wie das Leben, sagen die Tuareg, der zweite süß wie die Liebe und der dritte sanft wie der Tod. Der zweite schmeckt eindeutig am besten. Heute machen unsere Begleiter – alle sprechen mehr oder weniger gut Französisch – Animation auf ihre Art. Sie geben uns Turareg-Namen: Aus Günter I wird al-Hadi, „einer, der sich gut orientiert“, aus Manfred Manuka, der König. Dann malt Hilfskoch Idao mit den Fingern allerlei Punkte und Striche in den Sand – und gibt uns unlösbare Rätsel auf. Chefkoch Ateki erzählt Tuareg-Märchen und befragt das Orakel. Tausend Sterne funkeln am Sahara-Himmel.

Erg Admer: GPS N 24°26,930’/O 9°05,058’

Die bizarren Felsformationen und Sandkompositionen beflügeln die sprachliche Fantasie: Ernst vergleicht die halb runden Steinwaben mit Bunkern der Maginot-Linie, gestern taufte er eine steinerne Landschaft „Felsenzirkus“. Manfred spricht gerne von Orgelpfeifen (Fußballer würden dazu Stinkefinger sagen) und Nadelkissen, Renate erinnern manche Steingebirge wegen der rau-porösen Oberfläche an Elefantenhaut. Und diese Steinkegel vor uns, sind das nicht goliatheske „Mensch ärgere dich nicht“-Figuren?

Im Schmugglertempo, also volle Kanne, rasen wir ostwärts durch die ozeanischen Weiten der Sandwüste. Ténéré, „wo nichts ist“, nur eine Fata Morgana, die uns eine Seenplatte vorspiegelt. Keine Sinnestäuschung ist dagegen der weiße Toyota mit sechs Soldaten, die aus dem Nichts zu kommen scheinen. Eine Wüstenpatrouille. Agentur? Ja! – Wie viele Personen? Acht! – Deutsche? Ja! – Gut, weiterfahren! Man hat uns also unter Kontrolle.

„Die Touristen sollen sich nicht beobachtet fühlen, aber das Territorium soll überwacht werden“, hatte uns der Tourismusdirektor in Tamanrasset versichert. Und damit die behördliche Prozedur erklärt: 48 Stunden vor Eintreffen der Reisegruppen müssten die Agenturen die Teilnehmerlisten und den Routenverlauf mit detailliertem Tagesprogramm melden. Davon gingen dann Kopien an sieben Sicherheitseinrichtungen der Polizei, Gendarmerie und des Militärs, die diese abgestempelt dem Tourismusbüro zurücksenden. „Der Staat übernimmt die Sicherheitsgarantie der gemeldeten Touristen.“ Beim Mittagessen sagt Renate: „Auf jeder Reise kann etwas passieren. Ein Restrisiko bleibt immer.“ Sie meint nicht nur Luxor, Djerba oder Bali.

Wir machen Strecke durch weite Oueds, ausgetrocknete Flussbetten, und erreichen das Dünenmeer von Erg Admer. Am Fuß lassen die Fahrer etwas Luft aus den Rädern, damit die Landcruiser nicht im tiefen Sand stecken bleiben. Dann knien sie nieder und beten zu Allah, bevor sie mit Karacho, aber traumhaft sicher die Berge und Täler des Sandgebirges durchqueren.

Jabbaren: GPS N 24°28,606’ / O 9°42,306‘

Zwischenstopp in Djanet. Die Sicherheitsbehörden haben uns schon erwartet. Die Polizei hatte die Teilnehmerliste akzeptiert, die Gendarmerie nicht: Sie will auch unsere Reisepässe mustern. Duschen, Lebensmittel kaufen, Wasserkanister füllen, Benzin tanken. Und weiter.

Wir wandern einen steilen, steinigen Pfad hoch, 600 Höhenmeter, zum Tassili-Plateau von Jabarren. Esel tragen das nötigste Gepäck für das Nachtlager hinterher. Auf dem Rastplatz liegen Fischkonserven, Dosen und Plastikflaschen herum. Vermutlich Müll von Menschenschmugglern, die Schwarzafrikaner ins nahe Libyen führen. Jabarren gehört zum Tassili-N’Ajjer, einer Hochebene mit fantastischen Felslandschaften, die heute Nationalpark und Weltkulturerbe sind. Tiefe Einschnitte und enge Schluchten durchbrechen das Plateau. Wie Pfadfinder durchstreifen wir die monumentalen Felslabyrinthe mit feinsandigen Gängen, wo schon mal unvermittelt eine uralte Zypresse oder ein wilder Olivenbaum auftauchen.

Tausende von Felsbildern und -gravuren, oft durch Überhänge geschützt, machen das Naturmuseum zum „Louvre der Sahara“. Eike, der Steinmetz, kann sich an den Motiven aus der Rundkopf-, Rinder- und Pferdeepoche nicht satt sehen. Die erdfarbenen Abbilder von Büffeln und Kühen, Antilopen und Giraffen, Menschen und Lastkarren belegen, dass die unwirtliche Sahara vor ihrer Verwüstung eine blühende Landschaft war.

Tin Merzouga: GPS N 24°16,901’ / O 10°55,739’

Vor dem Schatten spendenden Küchenwagen sitzen die sieben Tuareg im Kreis. Sie sind in ihre langen Baumwollkutten gehüllt, die Gesichtsschleier geben nur Augenschlitze frei, einer trägt eine Sonnenbrille. „Wenn ich sie nicht kennen würde, würde ich sie nicht nach dem Weg fragen“, sagt Renate und lacht sich scheckig.

Irgendwo, irgendwann kommt uns ein klappriger, voll beladener Geländewagen entgegen, aus dem zwei Führer und vier französische Touristen steigen. Nach Tagen die erste Begegnung. Wenn die eine ernsthafte Panne haben. Sie fahren nur mit einem Auto, haben kein Satellitentelefon, weit und breit gibt es keine Brunnen, das Tadrart-Gebirge ist eine abgelegene Region, der Verkehr mithin sehr selten. Ganz schön leichtsinnig, findet auch unser Begleiter Seddik.

Der große Charme des Tadrart, im äußersten Südosten von Algerien gelegen, ist das Wechselspiel der Farben und Formen, von schwarzen Sandsteinfelsen und roten Puderzuckerdünen, bizarr erodierten Plateauresten und Bergen voller Sand. Als Ernst, der erfahrene Alpinist, die fast 200 Meter hohe Düne Tin Merzouga sieht, stürmt er los, den Kamm entlang hoch zum Gipfel. Wir können kaum folgen, stemmen uns gegen die aufkommenden Sturmböen, die an der Dünenflanke einen Windkanal formen und fiese kleine Sandkörner in Haare und Kameraritzen peitschen.

Djanet: GPS N 24° 34,000’ / O 9°29,000’

1.740 Kilometer liegen hinter uns. Endstation Djanet, eine Insel in der Wüste. Im Tal Haine von Dattelpalmen und Gärten, an den Hängen die Häuser der Altstadt. Das Hotel Zeriba in bester Ortslage ist ausgestorben. „Vor einem Jahr hast du hier keinen Platz bekommen“, sagt Eike und blickt zurück: „Alles war voll mit Zelten, Motorrädern, Geländewagen.“ Ganz Djanet, bis vor einem Jahr eine aufstrebende Oasenstadt und beliebter Treffpunkt der Saharafahrer, ist leer. Souvenirläden, Restaurants und die gut 30 Reiseagenturen haben kaum etwas zu tun. Nur wenige Franzosen streifen am heutigen Sonntag über den Markt. Die Geiselnahme hat die gesamte algerische Sahara in Verruf gebracht und den Tourismus, von dem fast alle hier leben, hart getroffen. „Wir Tuareg sind nicht zufrieden“, sagt der junge Verkäufer in einem Souvenirladen, „keine Geschäfte.“ Und wer ist schuld an der Misere? „Die Araber, die Regierung, das Militär.“ Bei Allah, keine Einzelmeinung in Djanet. „Die algerische Regierung hat doch überhaupt kein Interesse am Sahara-Tourismus“, erklärt der Mitarbeiter einer Reiseagentur. „Für sie zählt nur das Ölgeschäft.“ Die Tuareg-Region im Süden sei für die da oben in Algier „wie eine Kolonie“ und schon immer benachteiligt gewesen.

Der letzte Abend. Die Tuareg haben zum Abschied eine Ziege geschlachtet. Ateki, der Koch, füllt den Ziegenmagen mit den anderen Innereien, dann stopft er glutheiße Steine hinein. Er betätschelt den Magen, schleudert ihn, bis er sich bedrohlich ausdehnt, und lässt ein paarmal den Rauch entweichen. Bald sind die Innereien im „Tuareg-Schnellkochtopf“ gegart. Zum Probieren reicht er einen Becher der rauchig-sämigen Brühe und schneidet die garen Innereien in Appetithäppchen. Nach dem Hauptgang (Ziegenfleisch mit Pommes) und dem Dessert (Datteln) sitzen wir beim Tee am Lagerfeuer. Idao, der zweite Koch, dankt uns, dass wir gekommen sind. Ein Hoffnungsschimmer. Immerhin.