Der Status der Frauen als Politikum

Im letzten Jahr hat sich die Zahl der Frauen, die den Schleier tragen, auf mindestens das Zehnfache erhöht. Die marokkanische Frauenrechtlerin Rabéa Naciri über den Kampf für ein neues Personenstandsrecht und den Rückschritt in der Frauenpolitik

Interview KATRIN SCHNEIDER

taz: Das marokkanische Frauennetzwerk „Printemps d’égalité“ (Frühling der Gleichheit) hat eine Anzeigenkampagne für die Änderung des Personenstandrechts (Moudawana) gestartet. Was ist das Ziel dieser Initiative?

Rabéa Naciri: In dem Netzwerk haben sich mehrere Frauenorganisationen zusammengeschlossen, um eine große Öffentlichkeit für die Notwendigkeit der Änderung der Moudawana zu sensibilisieren. Vier Fälle von Frauendiskriminierung wurden im Rahmen einer groß angelegten Kommunikationsstrategie überall bekannt gemacht. Zum Beispiel die Geschichte von der Angestellten Kenza, die von ihrem Mann geschlagen wurde und sich nicht scheiden lassen kann, oder den Fall von der 65-jährigen Yamna, deren Mann sich von ihr hat scheiden lassen und die sich daraufhin auf der Straße wiederfand. Sie waren auf großen Anzeigentafeln in den Städten zu sehen. Wir haben Anzeigen in allen Zeitungen geschaltet, und es gab Radio- und Fernsehspots. Und es wird gefragt: „Ist es nicht Zeit, die Moudawana zu ändern?“

Wie ist die Reaktion darauf?

Wir erhalten ständig Anfragen, die Leute schreiben uns E-Mails oder rufen an. Das ist etwas Neues. Die Leute stellen Forderungen an die politischen Parteien. Das ist ein Prozess, der sich nicht rückgängig machen lässt. Ich bin sicher, dass in diesem Fall sehr, sehr viele Frauen aktiv werden. Wir haben erreicht, dass der Status der Frauen ein Thema der politischen Debatte geworden ist.

In den letzten Monaten wurde in marokkanischen Medien von einigen Frauen berichtet, die in einem guten Wohnviertel in Rabat von Islamisten tätlich angegriffen wurden, weil sie keinen Schleier trugen. Waren das Ausnahmefälle?

Ja. Aber diese Fälle haben uns trotzdem sehr schockiert. Auch wenn es sich um punktuelle Aktionen handelt, nehmen wir sie sehr ernst, weil sie signifikant für einen Wandel sind. Im letzten Jahr hat sich die Zahl der Frauen, die den islamischen Schleier tragen, auf mindestens das Zehnfache erhöht. Vorher waren verschleierte Frauen eher die Ausnahme, mittlerweile sind sie die Norm.

Wie erklären Sie sich das?

Mein Eindruck ist, dass die Frauen nach einer Identität jenseits des biologischen Frauseins suchen. Ich glaube, es ist weniger ein religiöses Gefühl als vielmehr Ausdruck einer Unzufriedenheit und einer tief greifenden Krise, die wir zurzeit durchleben. Sich zu verschleiern bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen, sie werden weniger belästigt. Es ist also auch eine Art, sich einen Platz in der Gesellschaft zu sichern, und eine Reaktion auf den Widerspruch, dass Frauen zwar verstärkt einer bezahlten Arbeit nachgehen, sich aber in allen anderen Bereichen strukturell nichts geändert hat.

Glauben Sie, dass diese Entwicklung sich nach dem Irakkrieg noch verstärken wird?

Ja. Der Irakkrieg ist ein Element dieser globalen, tief greifenden Krise. Dieser Krieg war extrem schmerzlich für uns. Ich habe Saddam Hussein immer verabscheut und während des ersten Golfkriegs 1991 habe ich gehofft, dass man ihn loswird. Bei diesem Krieg war das anders. Ich habe nachts nicht geschlafen, ich habe die ganze Nacht ferngesehen, und manchmal habe ich gedacht: Hoffentlich verletzen sie wenigstens viele amerikanische Soldaten. Das ist furchtbar, darüber bin ich mir im Klaren, aber ich bin in diesen Zustand gekommen, weil die Arroganz der Amerikaner wirklich zu groß war. Damit drängen sie die arabische Bevölkerung geradezu, sich als Muslime und Araber zu definieren, sie drängen uns, unsere Identität über die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft zu definieren und nicht als Bürger und Bürgerinnen und über demokratische Werte. Denn die einzige Waffe, die wir haben, ist die Größe unserer Bevölkerungen und die Solidarität untereinander. Und diese Erkenntnis ist furchtbar und sehr schmerzlich.

In den letzten Jahren haben sich einzelne Organisationen in verschiedenen Netzwerken zusammengeschlossen. Ist darin ein Strategiewechsel zu sehen, damit die Frauenbewegung mehr politisches Gewicht bekommt?

Ja, diese Strategie verfolgen wir seit einigen Jahren. Wir bilden Koalitionen zu einem bestimmten Thema oder für eine bestimmte Aktion, das funktioniert ziemlich gut. Die Demokratische Vereinigung der Frauen Marokkos (ADFM) funktioniert dabei häufig als treibende Kraft. Heute werden neue Frauenorganisationen nicht mehr nur in großen Städten, sondern meistens in kleinen Städten gegründet, und wir vernetzen uns auch mit diesen.

Gibt es auch islamistische Frauenorganisationen?

Es gibt eine islamistische Frauenorganisation innerhalb der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die seit den letzten Wahlen im Parlament vertreten ist. Die Frauenorganisation nennt sich „Die Erneuerung des weiblichen Bewusstseins“. Unser Bewusstsein ist angeblich verwestlicht. Zwischen ihnen und uns gibt es durchaus Gemeinsamkeiten, z. B. die Forderung nach einer stärkeren politischen Partizipation von Frauen oder das Anprangern von Gewalt gegen Frauen. Der Unterschied ist, dass die islamistischen Frauen alles mit der Religion verbinden wollen. Zum Beispiel behaupten sie, dass Männer ihre Frauen nur deshalb schlagen, weil sie Alkohol trinken, und das stimmt einfach nicht.

Was sind denn die zurzeit wichtigsten Arbeitsschwerpunkte der ADFM?

Nachdem der König im April 2001 die Kommission zur Reform der Moudawana eingesetzt hat, haben wir viel Zeit und Kraft darauf verwendet, das Netzwerk „Printemps d’égalité“ zu gründen. Wir haben uns sehr für eine Quotenregelung eingesetzt, mit dem Ergebnis, dass es seit den letzten Wahlen 35 weibliche Abgeordnete im Parlament gibt. In der vorigen Legislaturperiode hatten wir nur zwei Parlamentarierinnen. Seit den Debatten um den Nationalen Aktionsplan für die Integration der Frauen in die Entwicklung ist die Reform des Erziehungssystems zu einem ganz wichtigen Schwerpunkt unserer Arbeit geworden. Wir haben gerade eine Studie über das Erziehungssystem erstellt und darin festgestellt, dass unser Erziehungssystem Werte der Diskriminierung und der Intoleranz vermittelt.

Haben Sie Untertützung in der Regierung?

Wir hatten gehofft, dass die sozialistische Regierung unter Youssoufi in der letzten Legislaturperiode mehr erreichen würde.

Immerhin gab es unter dieser Regierung die erste Frauenministerin in Marokko.

Ja, Nezha Chekrouni hat versucht, etwas zu bewegen, aber sie ist ja nur zwei Jahre lang im Amt geblieben, nach den letzten Wahlen wurde das Ministerium wieder aufgelöst. Das Ministerium hat sehr eng mit den Frauenorganisationen zusammengearbeitet. Nach den letzten Wahlen hat es einen enormen Rückschritt gegeben. Es gibt jetzt eine Staatssekretärin für Familienangelegenheiten, sie ist Mitglied der nationalkonservativen Istiqlal, ohne jegliches feministisches Engagement. Es gibt keinerlei Dialog zwischen ihr und den Frauenorganisationen.