DER WIRTSCHAFTS-SACHVERSTÄNDIGENRAT WIRD VIERZIG JAHRE ALT
: Gefangene der Neoklassik

Vor allem in seinen Anfangsjahren hat der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (SVR) die Beratungsarbeit von Ökonomen revolutioniert. Das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ von 1967 etwa ist ohne den Einfluss des in den Medien „die fünf Weisen“ genannten Gremiums nicht zu verstehen. Auch als der Rat im Jahresgutachten 1973 seinen eigenen Keynesianismus zu Grabe trug und stattdessen den Monetarismus in den Mittelpunkt rückte, war er seiner Zeit voraus. Gleichzeitig begann damit aber die Endzeit des SVR – sowohl theoretisch als auch bezüglich der Politikberatung.

Seit der veränderten Nuancierung hat der SVR immer wieder dasselbe Instrumentarium der harmonistischen Angebotslehre präsentiert: Rückzug des Staates, Privatisierung sozialer Risiken, Deregulierung der Arbeitsmärkte, Lohnzurückhaltung für steigende Gewinne. Zum Schutz gegen offensichtliche Erfolglosigkeit wiederholt der Rat die Tautologie: Wachstums- und Beschäftigungskrise gelten immer nur als Zeichen unzureichender Marktentfesselung. Für die Lohnpolitik heißt das: Gehen die Löhne zurück, die Arbeitslosenzahlen jedoch nicht, dann sind eben die Löhne immer zu wenig gesenkt worden. Schuld sind also immer die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften, die Arbeitslosen und der Sozialstaat. Fehlverhalten der Unternehmen, Missmanagement und Bilanzkriminalität werden im aktuellen Jahresgutachten nicht einmal erwähnt.

Gleichzeitig aber sorgten Jahr für Jahr SVR-Minderheitenvoten dafür, dass auch die Forschungen, die die Neoklassiker empirisch und theoretisch begleiten, Berücksichtigung fanden. Trotzdem wird wohl keiner der Redner auf der Festversammlung das Instrument einer „Kosten-Nutzen-Analyse“ zur Bewertung von vierzig Jahren SVR heranziehen. Dabei sind dessen volkswirtschaftliche Kosten hoch. Der dickste Posten ergibt sich aus der Tatsache, dass ein Beitrag zur Lösung der Defizite Arbeitslosigkeit, Umweltkrise und wachsende Verteilungsungerechtigkeit nicht zu erkennen ist. Auch haben viele Fehlprognosen hohe volkswirtschaftliche Kosten produziert. Durch die viel zu optimistische Einschätzung der Marktdynamik sind Aufschwünge über- und Krisen unterschätzt worden.

Ein Grund, die Abschaffung des Sachverständigenrates zu fordern, ist das nicht. Dazu findet sich in den mittlerweile 38 Jahresgutachten viel zu viel nützliches empirisches Material, an dem sich kritische Ökonomen abarbeiten können. Wünschenswert ist vielmehr eine Öffnung des SVR für alternative Sichtweisen, um den Rat vor neoklassischer Besserwisserei zu bewahren. RUDOLF HICKEL