berliner szenen Auf dem Holzweg

Vorsaufen zum Tode

Schrottgitarren sägen. Eine Mülltonnenstimme singt schief dazu. „Was’n det überhaupt für ne müde Alkoholikermucke hier?“, fragt der neue Lesungsagent die beiden Verleger frech. Sie sitzen vor hochmodernen Rechnern, irgendwo im zweiten Stock eines Kreuzberger Hinterhofs. „Der Neue ist ein schwerer Fall, Werner, ich sach dir, der will uns am Ende noch seine Gary-Moore-Plattensammlung vorspielen!“, mault Jörg.

In der Mitte des Raums steht ein überdimensionierter Ghetto-Blaster, dessen zerbeulte Boxen mit roten züngelnden Flammen bemalt sind. Nun beschallt plötzlich Metallicas „St. Anger“ den Raum. „I’m judger and jury and executioner, too“, singt James Hetfield. Die Mörderriffs wälzen alles platt, und dann brüllt Hetfield auch schon wie wahnsinnig: „Kill, kill, kill, kiiiill!!!“

Zeit für eine Pause. Vorbei an den zwei Quadratmetern leerer Bier- und Wasserflaschen, die den Weg zur Flurtür verstellen, geht’s in den Nebenraum, wo die Kaffeetassen in einer rosa Spülwanne dümpeln. Hier sitzt auch der „Philosoph“. Er schreibt an einer Dissertation über den „Wahrheitsbegriff“ Martin Heideggers. Auf seinem Bildschirm flimmert allerdings kein Word-Dokument, sondern ein Ballerspiel mit dem Titel „Vorlaufen zum Tode“. „Ich brauche das einfach zwischendurch, um die Etyms in meinem Kopf zu lockern!“, erklärt der smarte Geisteswissenschaftler lakonisch. „Ich muss die Studie jetzt sowieso nur noch niederschreiben, ich hab sie ja schon seit Jahren fertig im Kopf.“

„Na wunderbar“, denkt sich der Agent und freut sich schon auf den Feierabend. „Heute nehme ich den Holzweg nach Hause, es regnet so schön!“, ruft er dem Ego-Shooter noch zu. „Klasse, und vergiss nicht schon wieder dein Ge-ste-ell!“ JAN SÜSELBECK