BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER
Die kleinste Zelle der Gesellschaft

Leerstelle (3): Die hängende Telefonzelle. Der Blechoberkörper (siehe rechts) in Köpenick repräsentiert den mageren Stand der DDR-Kommunikationstechnik um 1985

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens. Das sind abseitige Orte in Berlin, an die man im Alltag nicht oder selten hinguckt.

Angesichts der schwelenden Telekommunikationsbranchenkrise, vor allem der mobilen, kann das vielleicht die Zukunft sein: die hängende Telefonzelle. Puchanstraße, 12555 Köpenick. Und zwar international, wie der Aufkleber zu Häupten des Blechkörpers erhellt.

Was wie der Kopf eines abstrakten Körpers ohne Gliedmaßen in seinen Hohlraum blicken lässt, barg früher eine Lampe. Die Lampe leuchtete, wenn sie einmal dran war, solange sie hielt, und dann nicht mehr. Aber egal ob sie Zeichen gab ob nicht, die Ungewissheit ungestörten Telefonierens war garantiert. Soll heißen: Telefone gab es wenige, doch mehr, als man mit ihnen telefonieren konnte. Der öffentliche Apparat war – wie so vieles aus dem Arsenal der technischen Errungenschaften – mehr Zeichen seiner Funktion als praktikabler Gegenstand. Und schweres Erbe überdies. Die Vielzahl gusseiserner Zellen, deren gelbe Tür mit dem roten Reichsposthörer man kaum aufbekam, gehören zu den Marken der Kindheit im Osten. Dass, wie man später bei Marx/Engels lernte, die Familie die kleinste Zelle der Gesellschaft war, war im Telefongehäuse wie zu Hause zu erleben: Probleme, wohin man sah. Es war eng, es stank, und die Verbindung war gestört.

Der Köpenicker Blechoberkörper repräsentiert den mageren Stand der DDR-Kommunikationstechnik um 1985. Er umhüllte einen plastenen Telefonapparat mit Wählscheibe und Hörer an der leicht überdehnbaren Ringelfederschnur. „Telefone können dein Leben retten!“ (Schön wär’s.) Kompakt und grau in grau sah die Anlage deutlich nach Feldtelefon aus, von Zivilisten nur im Notfall zu gebrauchen. In der Gegenwart hängt der mit auch nicht ganz neuem Inhalt erfüllte Veteran als Telekommunikationsmahnmal an der Wand. Perfekt positioniert in Wahrung aller Proportionen: eine Armlänge weit vom Hauseingang; mittig überm Kellerfenster, zum Zweck der Standsicherheit mit eisernem Fallgitter und, für Kleinwüchsige, leicht erhöhtem Sockel versehen; parallel zum Abflussrohr, aus dem das Regenwasser über die Schuhe des Teilnehmers in den Keller fließen konnte; als aktuelle Zutat ein Kryptikon in Graffiti.

Der Abschied der Zelle ist schon Geschichte, ein Stadtmöbel der mobilen Gesellschaft, das auf Schokoriegelformat geschrumpft nun in der Hosentasche ruht. Mit der Möglichkeit des mobilen Telefonierens ist die private Äußerung, der Gestus, die Mimik, das intime Gebaren ins Öffentliche gelangt. Anfangs mit Verlegenheit, unter dem Hohn bzw. Ärger allgemeiner Anteilnahme, inzwischen zunehmend ignoriert. Man denkt sich die Zelle über dem ungebremst Telefonierenden. Man hört weg. Wo die Menschen in der Schlange vor der Zelle noch gemeinsam über „Fasse dich kurz“ philosophieren konnten, greift die Individualisierung der Massen um sich. Wer öffentlich telefoniert, ist immer öfter allein.

Dass dem mit zeitgenössischen Kreationen wie Infopoints mit Netzanschluss kaum entgegengewirkt werden kann, liegt nicht nur an der solitären Erscheinung solcher Points, eher an der symbolischen Gestalt, die Litfaßsäule, Telefonzelle und Postschalter vereint. Trotz modernster Ausstattung wird der postmoderne Typ als das wahrgenommen, was er gerade nicht sein soll: Museum. Welches nicht annähernd den Reiz wie der robuste Kasten überm Bürgersteig hat. Die Kippen am Boden weisen ihn als viel genutzten aus. Über dies als Indikator der sozialen Lage: Wer privat-mobil nicht finanzieren kann, muss öffentlich; auf der Post etwa, in schalldicht abgedeckten Zellen auf Vermittlung wartend, oder, wie in Köpenick, am Straßenapparat. Dem viel Zuspruch vergönnt ist, weil sich von ihm transkontinental telefonieren lässt, und zwar gratis. Woran erkennt man den Zusammenhalt einer Ethnie im Ausland? Am kaputten öffentlichen Telefon. Vorbehaltlos gibt man unter sich den Hinweis weiter, hier lässt sich kostenfrei die Heimat kontaktieren so lange, bis der Doktor kommt.

Dass der Apparat der Telekom noch im Gehäuse der Deutschen (DDR) Post steckt, hat mit kalkulierter Zielgruppenausrichtung zu tun. Die Puchanstraße verspricht neben der Gefühlslage einer Zeit, in der Kommunikation noch ein exotisches Fremdwort war, nichts weniger als das: das Nötigste. THOMAS MARTIN