berliner szenen U-Bahn-Bekanntschaften

„Ich bin Lothar“

Die Wirklichkeit ist oft skurriler als jede Fiktion. Diese Erkenntnis muss eine Frau in der U-Bahn machen, als sie Lothar gegenübersitzt. „Ich kenne Sie doch aus dem Film ,Der Glanz von Berlin?‘“, sagt die Frau, und Lothar nickt gequält, als sei es ihm peinlich, erkannt zu werden. Dabei beschreibt der Dokumentarfilm eigentlich nicht sein Leben, sondern das der drei Putzfrauen Delia, Gisela und Ingeborg.

Trotzdem läuft offenbar noch einmal der ganze Film vor ihr ab. Ingeborg ist Ende vierzig und allein. Sie engagiert sich für alte Menschen, singt in Pflegeheimen und macht Wohnungen sauber. Nebenbei sucht sie, wie sie ihrer Freundin gesteht, nach einem „netten Bekannten“. Es gelingt der Freundin, Ingeborg mit Lothar zu verkuppeln. Lothar ist nicht abgeneigt, macht aber darauf aufmerksam, dass er kein Mann für eine Nacht sei: „Ich werde nach einer halben Stunde müde.“ Trotzdem nähern sich die beiden an. Nach ein paar Wochen kommt es in seiner Wohnung zum Showdown. Sie sitzen in seinem mit roséfarbenen Dekorfliesen verzierten „Herrenzimmer“, er zeigt ihr stolz seine „kleine Bücherei“, die in drei Themengebiete aufgeteilt ist: „Berlin“, „Berlin-Mitte“ und „Wedding“. Ingeborg sagt: „Es ist ja so, dass man denkt, da muss noch so ein Knistern sein, so dieses Verliebtsein, und das ist es leider bei mir nicht.“ Und Lothar ringt um Fassung, sagt: „Man kann ja nichts übers Knie brechen.“

Die Frau in der U-Bahn geht noch einmal Szene für Szene durch und sagt abschließend: „Also, wie Sie den Lothar gespielt haben, das war einfach klasse, ganz groß. Und so echt.“ Lothar schaut sie eine Weile schweigend an. Bevor er im Wedding aussteigt sagt er: „Ich habe Lothar nicht gespielt. Ich bin Lothar.“

JAN BRANDT