Karlsruhe fängt Wanzen ein

Das Bundesverfassungsgericht erklärt den großen Lauschangriff für größtenteils verfassungswidrig. Jeder Bürger hat das Recht, in seiner Wohnung „in Ruhe gelassen zu werden“

KARLSRUHE taz ■ Die bisherige Praxis des so genannten großen Lauschangriffs verstößt weitgehend gegen den Schutz der Menschenwürde und ist deshalb verfassungswidrig. Das entschied das Bundesverfassungsgericht gestern in Karlsruhe. Der Gesetzgeber hat nun bis zum 30. Juni 2005 Zeit, um die Regeln zum Abhören von Wohnungen mutmaßlicher Krimineller mittels Wanzen nach der Entscheidung des Gerichts nachzubessern.

Acht Jahre nach ihrem Rücktritt als Justizministerin hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger damit doch noch einen Erfolg in ihrem Kampf gegen den großen Lauschangriff erzielt. Leutheusser-Schnarrenberger hatte gemeinsam mit ihren linksliberalen FDP-Kollegen Burkhard Hirsch und Gerhart Baum Verfassungsbeschwerde gegen die Neuregelung von 1998 eingelegt. Ihre Partei hatte die Klagen nicht mitgetragen.

Karlsruhe erklärte nun zwar die Grundgesetzänderung mit 6 zu 2 Richterstimmen grundsätzlich für zulässig, doch bei den Ausführungsbestimmungen in der Strafprozessordnung gab es zahlreiche Kritik. Hier muss künftig der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ besser geschützt werden. Der Bürger habe grundsätzlich das „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“. Auch die gerichtliche Kontrolle der Polizei und die Benachrichtigung der Betroffenen sollen verbessert werden. Außerdem dürfen Lauschangriffe nur noch bei schwerer Kriminalität eingesetzt werden.

Vor allem das faktische Verbot einer automatisierten Rund-um-die-Uhr-Überwachung wird die ohnehin aufwändigen Abhöraktionen weiter verteuern. „Ich hoffe, dass es bald keine Lauschangriffe mehr gibt“, erklärte Leutheusser-Schnarrenberger. Ex-Innenminister Baum wertete das „historische Urteil“ als „Signal für eine Neubesinnung auf die Bürgerrechte“. Burkhard Hirsch, einst innenpolitischer Sprecher der FDP, forderte, dass jetzt „nicht nur technische Korrekturen“ am Gesetz vorgenommen werden.

Auch Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) begrüßte das Urteil. „Es ist gut, dass die akustische Wohnraumüberwachung als Ultima Ratio erhalten bleibt.“ Die Ministerin betonte, dass die Polizei schon bisher „sehr zurückhaltend“ mit der umstrittenen Ermittlungsmaßnahme umgegangen sei. CDU-Politiker mahnten, den Lauschangriff nicht durch zu hohe Hürden unpraktikabel zu machen.

Direkte Auswirkungen hat die gestrige Entscheidung zunächst nur auf Abhöraktionen zur Strafverfolgung. Präventive Lauschangriffe in Wohnungen, die in zahlreichen Polizeigesetzen der Länder vorgesehen sind, werden von dem Urteil nicht unmittelbar betroffen.

Der Bundes-Datenschutzbeauftragte Peter Schaar (Grüne) will Grundgedanken des Urteils auch auf andere Überwachungsmaßnahmen, insbesondere die Telefonüberwachung, übertragen. „Auch dort müssen Gespräche im höchstpersönlichen Bereich besser geschützt werden.“ Rot-Grün hat zwar eine Neuregelung der Telefonabhör-Regelungen bis zum Ende des Jahres angekündigt, Zypries will jedoch zunächst prüfen, welche Auswirkungen das gestrige Urteil hierauf haben wird.

Der Lauschangriff zur Strafverfolgung war 1998 nach jahrelangem Parteienstreit eingeführt worden. CDU/CSU und SPD hatten sich schon 1993 auf eine Grundgesetzänderung verständigt, die FDP war hierzu erst 1995 nach einer internen Mitgliederbefragung und dem Rücktritt von Leutheusser-Schnarrenberger bereit. Weitere zwei Jahre dauerten die intensiven Verhandlungen über Ausnahmeregelungen für Gespräche mit Pfarrern, Anwälten, Ärzten und Abgeordneten. Doch diese Sicherungen reichten nicht aus. Karlsruhe fordert nun deutliche Nachbesserungen. (Az.: 1 BvR 1084/99 u. a.)

CHRISTIAN RATH

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