Mädchen in Nöten

Wir waren jung, und wir brauchten das Geld

Ohne die Telefonzelle wären Birgit S. und ich dereinst vermutlich nicht auf die schiefe Bahn geraten. Hätte da, nur wenige Meter vom Kiosk entfernt, kein öffentlicher Münzfernsprecher gestanden, sondern eine Parkbank oder eine Mülltonne – niemals wären in unseren etwa achtjährigen Gehirnen betrügerische Pläne gereift und zur Ausführung gelangt. Es gab sie aber nun einmal, die leuchtend gelbe Telefonzelle, in der übrigens nie jemand ein Gespräch führte, weil sie direkt unter der U-Bahn-Brücke postiert war. Über die lärmte alle drei Minuten ein Zug hinweg. Außerdem hielt hier die Straßenbahn. Wenn Birgit S. und ich nach dem Schwimmunterricht vor dem Kiosk standen, mussten wir oft sehr laut ausrechnen, wie viele Salinos oder weiße Mäuse wir uns heute leisten konnten.

Unsere finanzielle Lage war alles andere als stabil. Manchmal gaben uns unsere Mütter Geld für den Einkauf beim Kiosk, manchmal verweigerten sie jegliche Unterstützung. Ein System war nicht zu erkennen. Nur in den Sommermonaten ging es uns prächtig: Da konnten wir regelmäßig den Groschen für den Fön in Süßigkeiten umsetzen, ohne Ärger zu riskieren. Die Haare trockneten auf dem Weg nach Hause, und niemand stellte Fragen.

Am Tag unseres großen Coups hatten wir seufzend unsere Münzen in das Groschengrab Haartrockner geworfen. Es war Herbst. Unsere feuchten Sportbeutel schwingend, wanderten wir zur Straßenbahnhaltestelle. „Wie viel hast du noch?“, fragte Birgit. „Nichts“, sagte ich. Birgit wühlte in den Taschen ihres Anoraks, zog ihr todschickes, perlenbesetztes Portemonnaie hervor und zählte. „Sieben.“

Sieben Pfennige. Das reichte gerade mal für einen Salino und eine winzige Schaumzuckermaus. Wie ich Birgit kannte, würde sie den Salino mit mir teilen, was allerdings immer eine anstrengende Angelegenheit war. Ich mochte nicht, dass Birgit ihre Hälfte abbiss, weil dann ihre Spucke an meinem Anteil klebte. Salinos mussten deshalb mühselig lang gezogen und mehrfach gefalzt werden, bis eine Bruchstelle entstand. „Wir könnten drei Mäuse nehmen“, schlug ich vor. „Oder, oder …“ sagte Birgit, der genauso wenig wie mir einfiel, welche Alternativen wir hatten. Wir steuerten den Kiosk an, eine kleine Bude mit unzähligen Zeitschriften, einer großen Langnese-Eistafel und einem keine Wünsche offen lassenden Süßwarensortiment auf Augenhöhe. Es gab zwei Sorten Schaumzuckermäuse. Die kleinen, bunten waren meist schon etwas hart, die großen, weißen durchaus zehn Pfennig wert, wenn sie aus einer frisch gelieferten Dose kamen. Hinter den Mäusen stapelten sich die teuren rosa-weiß gestreiften Waffeln, daneben standen die schokoladeüberzogenen Salmi-Lollis, die Ahoi-Brausepulverschachtel, die Lakritzschnecken, die Erdbeeren, der Speck, die sauren Stangen …

Wer von uns die Idee hatte, weiß ich nicht mehr, auch nicht, wer anfing. Jedenfalls stand ich an diesem Nachmittag an der Haltestelle und sprach einen Erwachsenen an: „Entschuldigen Sie bitte, können Sie uns helfen? Wir möchten telefonieren, aber wir haben nicht genug Geld.“ Ich sagte das mit ernster Miene und leicht zittrigem Unterton. Dass unsere Augen vom Chlorwasser gerötet waren und wir einen entsprechend verheulten Eindruck machten, war mir dabei gar nicht bewusst. Der Erwachsene aber zeigte sich beeindruckt und mitfühlend. Selbstverständlich wollte er helfen, zückte seine Brieftasche und gab gleich zwei Groschen – ohne überhaupt zu fragen, wie viel wir denn selbst noch hätten! Ich nahm die Spende artig dankend entgegen, Birgit strahlte unser Opfer mit einem entzückenden Kinderlächeln an.

Wir trugen unsere Beute in die Telefonzelle. Ich nahm den Hörer ab, tat, als würfe ich Geld in den Automaten, und wählte eine ausgedachte Nummer. Birgit beobachtete unterdessen den Geschröpften. „Der guckt noch“, warnte sie. Ich begann ein fiktives Gespräch: „Hallo, Mama, ich wollte nur mal anrufen …“ Dann fuhr die Straßenbahn vor und nahm alle Zeugen unseres Verbrechens mit.

Dass es so einfach war, aus 7 Pfennigen 27 zu machen, hatten wir bis dahin nicht gewusst. Trotzdem verfeinerten wir unsere Methode innerhalb der nächsten Stunde: Jetzt waren wir Geschwister, die „ganz schnell“ ihre Mutter anrufen mussten, wir hatten „überhaupt kein Geld mehr“, und in der Telefonzelle sprachen wir lautlos in die Muschel. Die da draußen konnten uns nämlich eh nicht hören! Einige Straßenbahnen später waren wir so begütert, dass es sogar für Waffeln reichte.

Seltsamerweise wurde uns das Verbrechen nicht zur Gewohnheit. Wenn wir genug eigenes Geld hatten, ruhte unsere kriminelle Energie. Waren wir wieder einmal knapp, wussten wir, wie man sich verhält. Aber wer weiß, was ohne die Telefonzelle geschehen wäre – vielleicht hätten wir dann schon recht früh unseren ersten Kiosk überfallen. CAROLA RÖNNEBURG