Rätselhafte Kräfte im Atomkern

Was die Welt zusammenhält und welche Kräfte in Atomen wirken, untersucht ein groß angelegtes, von der EU gefördertes Projekt. 135 Forschungsinstitute in ganz Europa sind beteiligt. Risiken der neuen Erkenntnisse bleiben indes außen vor

„Es kann sein, dass morgen ein Team die zündende Idee hat“

VON GISELA SONNENBURG

„Wir verdanken der Kernkraft unsere Existenz.“ Ulf Meißner, 45 Jahre, Physikprofessor und Direktor des Bonner Helmholtz-Instituts, genießt den tieferen Sinn seiner Feststellung: Ohne die Anziehungskraft im Innern von Atomen zerfiele die Welt nicht nur zu Staub, sondern in allerkleinste Teilchen. Winzige Energieträger würden durch das Weltall rasen, aber ihre Fügung zu fester Materie wäre ausgeschlossen.

Dabei sind die Atomkräfte der Wissenschaft noch immer rätselhaft: Das Atomzeitalter hat es bisher nicht geschafft, die entscheidenden Wirkungsmechanismen zu klären. Die letzten Modelle und Versuche hierzu wurden in den 80er-Jahren nach unbefriedigenden Ergebnissen aufgegeben.

Aber jetzt: Nachdem Deutschland bereits den Ausstieg aus der gefahrenreichen Atomenergie beschloss, tritt, von der EU mit 17,4 Millionen Euro gefördert, eine Heerschar von 2.000 Physikern an, um dem Mysterium der Kraft der Kerne endlich auf den Grund zu gehen.

Ein Mammutunternehmen. 135 Forschungsinstitute in ganz Europa machen mit – für die nächsten drei Jahre reicht das Geld. Ob oder gar wann der gewünschte Erfolg eintritt, kann aber niemand sagen: „Es kann sein, dass morgen ein Team die zündende Idee hat, es kann aber auch sein, dass wir überhaupt scheitern“, sagt Meißner.

Ihm geht es ganz konkret um die so genannte „starke Wechselwirkung“: Sie soll für die Entstehung von Materie ebenso verantwortlich sein wie für das Aneinanderhaften der Elementarteilchen im Atomkern. Aber: Von allen Wechselwirkungen ist sie am wenigsten erforscht. Die anderen drei Arten dürften auch Laien bekannt vorkommen: Da sind erstens die Kraft zwischen Sonne und Mond, zweitens die so genannte schwache Wechselwirkung in Form von Kohäsion und Adhäsion und drittens die elektromagnetischen Felder.

Sie alle hat der Mensch weitgehend entschlüsselt. Nur die vierte und stärkste Wechselwirkung, eben die, die im Atomkern wirkt, harrt der Aufklärung. Und während ein Atomkern sich noch in Protonen und Neutronen splitten lässt, also in positiv geladene und neutrale Teilchen, kommen die Unterteilchen dieser so genannten Hadronen nur noch in Gruppen vor.

Quarks, Anti-Quark-Paare und Gluonen, wie die kleinsten Bausteine heißen, lassen sich nämlich partout nicht voneinander isolieren, und der Grund dafür soll in der starken Wechselwirkung liegen. Findet man heraus, wieso Elementarbausteine aneinander kleben, als seien sie für die Ewigkeit verlötet, so wird das für die Theorien von der Entstehung des Kosmos weit reichende Folgen haben, glaubt Meißner. Lockt hier die Wahrheit über den Urknall?

Das Meißner’sche Vorhaben gleicht dem faustischen Streben. „Dass ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält“, stöhnt Goethes Held, bevor er sich dem Teufel ergibt. Satanisch mutet das Bonner Hadronen-Projekt zwar nicht an – aber die Physiker können keine Garantie dafür geben, dass ihre etwaigen Erkenntnisse nicht missbraucht werden. „Wissenschaft und Forschung sind frei, Wissen ist frei zugänglich“, so Meißner, „auch ich kann mir als Forscher meine Probleme selber stellen.“

So bleibt das Tüfteln um die Teilchen ein rein fachspezifisches. Meißner koordiniert zwar ein Teilprojekt, das sich auf 19 Institute in 9 Ländern erstreckt. Und er verteilt von Bonn aus die 600.000 Euro, die die EU diesem Teilbereich, der theoretischen Physik, zugesteht. Alle Beteiligten sind Physiker. Interdisziplinär ist die Kooperation mitnichten, wenn auch international: In Russland und Spanien, in Großbritannien und Portugal arbeitet man mit.

„Ich setze darauf, dass bei dieser Konzentration auf ein Problem die richtigen Ideen zusammenkommen“, hofft Meißner. Andere Fächer, gar die kritische Philosophie, vermisst er nicht – obwohl er durchaus diskutierfreudig ist und selbst auch mal Philosophie studierte.

Zudem kam der Zuschlag der EU im Januar überraschend: „Viele hatten uns keine Chancen eingeräumt.“ Denn anders als Genetik oder Nanotechnik ist die Grundlagenforschung der Physik nicht eben in Mode. Umso mehr freuen sich die so genannten Teilchenphysiker über das EU-Interesse – und wissen es als Weisheit zu vermelden: „Gerade die nicht gelösten Probleme sollten bewältigt werden. Weglaufen ist keine Lösung.“

Der Hamburger Philosophieprofessor und Wissenschaftskritiker Manfred Wetzel, Jahrgang 1937, hat derweil einen ganz anderen Verdacht: „Vermutete Neuigkeiten zur Urknallthese beflügeln natürlich die Fantasie der Geldgeber. Das geht in Richtung Energiegewinn, auch in Richtung Gottspielen“, warnt er. Denn bisher, so Wetzel, seien Urknall-, Relativitäts- und Quantentheorie noch nicht unter einen Hut gebracht: „Auch die Physik hängt in einem bestimmten Bezugsrahmen – und da ist irgendwann ein Ende der Fahnenstange erreicht.“ Objektive Allwissenheit ist demnach sogar theoretisch unmöglich.

Immanuel Kant kam vor über 200 Jahren zum selben Resultat. Lange nach seiner philosophischen „Kritik der reinen Vernunft“ entstand dann Albert Einsteins physikalische Relativitätstheorie. Sie definiert Energie als Ergebnis von Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat – und ist auch für Meißner wegweisend: Laut ihr sind jede Zeitangabe und jede Bewegung im Raum relativ, weil an ein Bezugssystem gebunden.

Der messbare Kosmos wäre demnach endlich. Und Meißner weiß: „Alles, was wir haben, sind Wahrscheinlichkeitsaussagen.“ Einfach kompliziert? Als Physiker lebe er „mit der Verhaustierung des Komplizierten“, sagt Meißner. „Da werden Probleme ausgeblendet“, vermutet hingegen Wetzel. Und: Verifizierbar sind die Teilchentheorien sowieso nur bei unnatürlich hohen Geschwindigkeiten.

Physiker verwenden hierfür so genannte Teilchenbeschleuniger. Die meist unterirdischen, hausgroßen Versuchsräume lassen Teilchen zur Schnellform auflaufen. Mit solchen Experimenten verbringt auch der Physiker Meißner viel Zeit. Der Lohn, den er sich verspricht: Die praktische Umkehrung der Einstein’schen Formel. Sprich: die Umwandlung von Energie in Masse, wenn ein elektromagnetischer Impuls auf ein Proton trifft. Wird der Mensch etwa in der Lage sein, aus purer Energie, quasi aus dem Nichts, Materie hervorzuzaubern? Weitergedacht, wäre die Erfindung von neuen Elementen möglich. „Aber es wäre vermessen, zu sagen, das wäre absehbar“, wiegelt Meißner ab: „Davon sind wir noch sehr weit entfernt.“

Derzeit seien ohnehin nur Versuche mit dem am simpelsten konstruierten Element möglich: mit Wasserstoff, dessen Kern nur ein Proton hat. Manfred Wetzel, der in jungen Jahren einige Semester Physik hinter sich ließ, ist die Forschung dennoch oder auch gerade deshalb suspekt: „Da ist ein A-priori-Misstrauen angesagt.“ Zu sehr, meint er, dessen dreibändige „Praktisch-politische Philosophie“ dieser Tage im Verlag Königshausen & Neumann erscheint, sei die naturwissenschaftliche Forschung in der jeweiligen Spezialdisziplin verhaftet.

„Technikgläubigkeit, blinder Wissenschaftswahn“ – Wetzels Rundum-Kritik trifft genau, was Ulf Meißner als Vorwurf kennt und fürchtet. „Alle benutzen Technologie, und trotzdem gibt es diese Technologiefeindlichkeit“, seufzt der Physiker.

Dabei muss er ständig aufpassen, seine besten Mitarbeiter nicht an die freie Wirtschaft zu verlieren: „Physiker sind begehrte Consultants, weil sie gut ausgebildet sind, um Probleme zu lösen.“ Für unvorhergesehene Folgen fühlen sie sich hingegen nicht zuständig – das wäre die Begründung einer ganz neuen Tradition.