Die Psyche der Zuschauer pflügen

„Alternativa St. Petersburg“: Der Russische Kino-Klub zeigt im Rahmen des Festivals weitere Filme zwischen Groteske und mystischer Kontemplation. Die Stummfilme unter ihnen werden vom „Volkov-Trio“ und „Tequilajazzz“ begleitet

Helfershelfer des Kapitals bringen die Arbeiter zum Saufen und Plündern

von JAKOB HESLER

St. Petersburg feiert Geburtstag, und Gamburg, wie Russen die Freie und Hansestadt nennen, feiert mit. Bands führen musikalische Alternativen aus dem heutigen St. Petersburg vor, und das Filmprogramm zeigt, dass die Stadt immer schon für kulturelle Alternativen gut war. Natürlich auch und gerade zu der Zeit, als sie nach dem frisch mumifizierten Bolschewikenführer umbenannt wurde und junge Kinomacher im revolutionären Elan Filmgeschichte schrieben.

Jenseits der Tradition arbeitete jedenfalls die Leningrader „Fabrik des exzentrischen Schauspielers“ (FEKS). Ihre Gründer Grigorij Kozincev und Leonid Trauberg adaptierten erst Gogols Die Heirat fürs Theater, 1926 verfilmten sie dann Der Mantel. Und in der Tat wird hier exzentrisch geschauspielert. Gogols groteske Typen werden ins Groteskeste stilisiert. Akaki Akakijewitsch, der sonderliche St. Petersburger Beamte mit der Mantelobsession, trippelt in unterwürfiger Verkrümmung über die weitläufigen Flure seiner Amtsstube.

Ausleuchtung und Interieurs wirken expressionistisch, aber nicht die Außenaufnahmen, etwa die elegante Umsetzung der witzigen Szene, in der Akaki stolz seinen neuen Mantel spazieren führt und der Schneider ihm nachrennt, um ihn zu bewundern.

Anders als bei Gogol endet Akaki nicht als Gespenst. Dafür beginnt die Verfilmung mit einer erfundenen Episode aus seinen jüngeren Jahren, in der ihn die Leidenschaft für eine Prostituierte in korrupte Machenschaften verwickelt. Narrativ ist das wirr, aber es macht den sexuellen Unterton des Mantelfetischismus samt Schuldkomplex explizit (das Kleidungsstück ist Akaki lieb „wie eine Gefährtin“). Kafka hätte den Film sicher gemocht.

Auch Sergej Eisenstein begann mit Theaterarbeiten im FEKS-Umfeld. Dabei entwickelte er seine Theorie einer „Montage der Attraktionen“: Die Kombination von Gegensätzlichem soll einen dialektischen Lernprozess auslösen. Geeigneter als das Theater ist dafür das technische Medium Film, zu dem Eisenstein auch bald wechselte. Hier konnte er den eigentlichen Zweck der Kunst verfolgen, für ihn: „die Psyche der Zuschauer pflügen wie ein Traktor“. In dieser Metaphorik steckt eine Wahrheit, denn Kunst will ja nicht nur zum berüchtigten Selbst-Denken anregen, sondern verlangt auch die Unterwerfung unter ihre ästhetischen Vorgaben.

Eisensteins erster Langfilm Streik (1924) zeigt, wie das in der Praxis aussieht. Er ist wesentlich experimenteller als Panzerkreuzer Potemkin, weshalb sich ein heutiges Publikum von Streik fast noch lieber die Psyche pflügen lassen dürfte. Sechs Kapitel skizzieren modellhaft die Anatomie eines Arbeitskampfs, von der Agitation über den Hunger bis zur Unterwerfung in einem brutalen Massaker. In dieses sind Schlachthof-Bilder von einem ausblutenden Ochsen montiert. Eisensteins „Attraktionen“ sind nicht attraktiv, sondern Schock durch Montage. Plakative Oppositionen, deren Schema aber oft unterlaufen wird, so von einem Trupp zirkusreifer Lumpenproletarier. Als Helfershelfer des Kapitals sollen sie versuchen, die braven Arbeiter zum Saufen und Plündern zu verleiten, was sie mit exzessiver Freude auch tun.

Mit dem St. Petersburger Alexander Sokurov ist in der Reihe auch eine andere große Richtung des russischen Kinos vertreten. Im Gefolge seines Mentors Tarkovski kritisiert er Eisensteins Montagekonzept als kopflastig und verfolgt eine Ästhetik der langen Einstellung und des Modellierens der Zeit. Gemeinsam ist beiden Ansätzen jedoch der Verzicht auf herkömmliche Plotbehandlung. In Sokurovs Kammerspiel Mutter und Sohn (1996) hütet der Sohn das Sterbebett der siechen Mutter, völlig einsam in einer ländlichen Hütte. Ein Zug, und damit die Zivilisation, fährt fern am Horizont vorbei. Quälend langsam gerinnen auf elegischen Spaziergängen die Zeitdimensionen zu einem Gemälde in Braun-Grün. Die Perspektiven sind verzerrt. Ein Schmetterling als Todesbote: hypnotischer Mystizismus.

Ebenfalls braun getönt ist Von Menschen und Missgeburten (1998) von Alexej Balabanov, bekannt durch den Mafiafilm Der Bruder (1997). Die dröge Groteske fabuliert vom Ursprung des Kinos aus dem Geiste der Pornographie im St. Petersburger Bürgermilieu der Jahrhundertwende. Ungleich lustiger als dieser Zwitter aus Eraserhead und dem frühen von Trier ist der Vorfilm Trofim (1995). Balabanov erfindet hier einen absurden situativen Kontext für die berühmte, aber ziemlich inhaltsleere lumièresche „Ankunft eines Zuges im Bahnhof“, einer der ersten Filmszenen überhaupt. Fazit der filmhistorischen Metareflexion: Was nicht passt, wird passend gemacht.

Der Mantel: (Live-Musik: Volkov-Trio): Do, 21.30 Uhr; Kuckuck: So + Di, 21.15 Uhr; Streik (Live-Musik: Tequilajazzz): Do, 15.5., 20 Uhr; Mutter und Sohn: So, 18. + Mo, 19.5., 21.15 Uhr; Von Menschen und Missgeburten: Do, 22.5., 19 Uhr + Sa, 24.5., 17 Uhr, Metropolis