Butterfahrt der Neuen Mitte

Ein Gärtner aus Köln stellt auf der Hauptversammlung der Comdirect Bank in Hamburg merkwürdige Fragen, gibt unpassende Ratschläge – und legt so offen, dass die Sitzung nur eine große Show ist

Es solle sich doch bitte keiner wundern, warum er so müde ausschaue, sagt Herr Kratz. „Ich hatte heute Nachtdienst.“ Achim Kassow, Vorsitzender der Comdirect Bank, schaut ungläubig nach rechts. Dort steht ein 52-jähriger Gärtner des Botanischen Gartens Köln am Rednerpult.

„Wegen des Nachtdienstes bin ich mit dem Flugzeug gekommen“, fährt Klaus-Wilhelm Kratz fort. Dann hebt er seine Stimme: „Fahren Sie nicht mit der Bahn. Fliegen Sie!“ Das sei sein Ratschlag an die Aktionäre.

Belustigt blickt Kassow seine Kollegen auf dem Podium an. Doch die verziehen keine Miene. Kassow ist gerade einmal 36 Jahren alt und hat es bereits zum Vorsitz im Comdirect-Vorstand gebracht. Aber einen Auftritt wie den des Herrn Kratz in der Fragestunde der Hauptversammlung hat er offenbar noch nicht erlebt.

Die Commerzbank-Tochter sei „Best-In-Class“, hatte Kassow in seinem Bilanzvortrag gesagt. Im kommenden Jahr könne man sogar eine Dividende ausschütten. Dafür gab es Applaus. Lob, obwohl die Comdirect-Aktie im Geschäftsjahr 2002 noch einmal gesunken ist. Seit dem Börsengang im Jahr 2000 hat das Papier somit mehr als 90 Prozent an Wert verloren. Aber, so interpretierte es Kassow, „wir haben den Turnaround geschafft“.

Als ein Anwalt aus Berlin Vorstand und Aufsichtsrat beschuldigte, sich „die Wertvernichtung fürstlich vergüten zu lassen“, reagierte Kassow souverän. Wie aber sollte er die Kritik des Herrn Kratz verstehen? Der sagte, dass ihn die Abstimmung an DDR-Wahlen erinnere. Tatsächlich winkte die Versammlung, in der Commerzbank und T-Online knapp 85 Prozent der Stimmgewalt haben, alle Anträge von Vorstand und Aufsichtsrat mit über 99,9 Prozent Zustimmung durch.

Ach, wäre Kassow doch nur schon Ende der Neunziger dabei gewesen, er hätte alles verstanden. Damals, als die Zeiten gut waren, wurden die Hauptversammlungen zu Butterfahrten der Börsen-Neulinge ab 50. Viele stellten damals Fragen, die den Besserverdienern auf dem Podium merkwürdig vorkamen. Einer etwa verlangte vom VW-Vorstand bequemere Sitze, ein anderer ein üppigeres Buffet.

Jetzt ist nur noch Herr Kratz da, der in seiner Freizeit Plakate der Bank an die Wände von S-Bahn-Stationen klebt. „Es ist doch eine reine Show-Veranstaltung“, urteilt er. „Sie wird nur gemacht, weil das der Gesetzgeber fordert.“ Er sagt das, als würde er nicht merken, dass er selbst am meisten zur Show beigetragen hat. MATHIAS WÖBKING