Die reisende Ärztetruppe des BGS

AUS FRANKFURT AM MAIN MATTHIAS THIEME

Das Westfälische Zentrum für Forensische Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn legt großen Wert auf „Kompetenz, Engagement und Toleranz“ seiner Mitarbeiter. „Bei der Personalauswahl“, heißt es im Leitbild der Einrichtung, stelle man „erhebliche Anforderungen an das Einfühlungsvermögen“. Mag sein, doch wenn es um die Begutachtung von Abschiebehäftlingen geht, ist es offenbar schnell vorbei mit dem Einfühlungsvermögen und der Toleranz. Zumindest bei Rainer Gliemann, dem Leiter des Gutachteninstituts der Einrichtung.

Am 2. Februar betritt Gliemann die Flüchtlingsunterkunft am Frankfurter Flughafen. Sein Auftrag: Untersuchung der psychisch kranken Asylbewerberin Suneya Ayari auf „Flugtauglichkeit“. Zweck der Untersuchung: Ayari soll flugtauglich geschrieben werden, um abgeschoben werden zu können. Gliemanns Auftraggeber: der Bundesgrenzschutz (BGS). „Auffällig“ an Ayari sei „die wirre Frisur“, schreibt Rainer Gliemann nach eineinhalbstündiger Untersuchung in sein Gutachten. „Ihr Verhalten ist nicht situationsadäquat, da sie unaufhörlich ihr Schicksal beklagt.“

Dass Ayari ihr Schicksal beklagt, hat einen Grund: Der BGS hatte sie am selben Tag aus dem Markus-Krankenhaus in Frankfurt abgeführt. Mehrere Beamte erschienen an jenem Tag in der psychiatrischen Station des Krankenhauses, um die Tunesierin abzuschieben. Sie kamen, obwohl der behandelnde Arzt von Suneya Ayari dem BGS schriftlich mitgeteilt hatte, dass eine Abschiebung aus medizinischer Sicht nicht zu verantworten sei. Augenzeugen berichten, dass Ayari sich im Krankenhaus verzweifelt zu Boden warf, als die Beamten kamen, sich ins Gesicht schlug und die Haut zerkratzte. Auf der Station gab es Aufruhr. Eine Mitpatientin erlitt einen Nervenzusammenbruch.

Bei einer Abschiebung der Patientin sei mit „einer erheblichen Zunahme der Suizidgefahr zu rechnen“, hatte das Krankenhaus den Grenzschützern mitgeteilt. Doch die Beamten bestanden darauf, dass die Tunesierin einem anderen Arzt vorgestellt wird, auf den BGS und Ausländerbehörden immer wieder gern zurückgreifen, wenn eine Abschiebung wegen Krankheit zu scheitern droht: Rainer Gliemann.

Tränen als „Zweckreaktion“

„Die intelligente Probandin weiß natürlich, dass suizidale Handlungen unter Umständen den Rücktransport erschweren oder verunmöglichen“, schreibt Gliemann in seinem Bericht über die Patientin Suneya Ayari. Deshalb sei eine „Zweckreaktion“ wahrscheinlich. Zwar sei die Asylbewerberin „fast nicht in der Lage, zum Untersuchungsraum zu gehen“ und höre „imperative Stimmen“, doch in ärztlicher Begleitung sei sie „reisefähig“. Einen Tag später, am 3. Februar, schiebt der BGS Ayari nach Tunesien ab. Die Ärztekammer Hessen will den Fall untersuchen. Man werde berufsrechtlich ermitteln, sagt Präsident Michael Popovic. Gliemann lehnt – auch der taz gegenüber – eine Stellungnahme ab.

Gutachten dieser Art sind kein Einzelfall. Der BGS könne mittlerweile auf eine „reisende Truppe“ von Ärzten zurückgreifen, die als „freie Gutachter“ fast immer die „Flugtauglichkeit“ des Abzuschiebenden bescheinigen, berichten an Abschiebeverfahren beteiligte Ärzte und Anwälte. Überall in Deutschland würden mittlerweile die Gesundheitsämter umgangen, die für Begutachtungen eigentlich zuständig wären. Stattdessen beauftrage der BGS seine bewährte Ärztegruppe. Diese „Fachärzte für Abschiebung“ brauchten für ihre Untersuchungen oft nur zwanzig Minuten. Die Gutachten würden hastig im Auto diktiert.

Verfolgt man die Spur manches „freien“ Gutachters, landet man nicht nur im Fall Gliemann beim Westfälischen Zentrum für Forensische Psychiatrie (WZFP). Hier ist auch der von Menschenrechtlern heftig kritisierte Turan Devrim angestellt. Psychiater Devrim behandelt als Vertragsarzt in der Abschiebehaftanstalt Büren kranke Häftlinge. Zugleich begutachtet er für die Ausländerbehörde Köln Abzuschiebende. Dass darunter auch seine Bürener Patienten sind, die zu ihm in anderer Rolle Vertrauen gefasst haben, ist für ihn „nur theoretisch ein Problem. In der Praxis wird man dem gerecht.“

Das sehen Mediziner und Flüchtlingsbetreuer anders. Zur Begutachtung traumatisierter Flüchtlinge seien die Ärzte des WZFP „völlig unqualifiziert“, sagt der Kölner Anwalt Gunter Christ. Devrims Gutachten entsprächen häufig „weder den ethischen noch den fachlichen Anforderungen“, sagt Hans Wolfgang Gierlichs, Leiter der Ärztegruppe Standards für die Begutachtung psychisch traumatisierter Menschen (SBPM).

Auch der Flüchtlingsrat Köln hat viele Gutachten Devrims studiert: „Posttraumatische Belastungsstörungen bestätigt er oft, aber dann schreibt er die Leute doch reisefähig“, sagt Geschäftsführer Claus-Ulrich Prölß. Der Frage, ob die Kranken ihre Therapie im Heimatland fortsetzen können, „geht Devrim nur mangelhaft nach“. Inzwischen ermittelt die Ärztekammer Westfalen-Lippe im Fall Devrim. Auch Devrim lehnt – wie Gliemann – jede Stellungnahme ab.

Nicht nur in Köln sucht sich die Ausländerbehörde inzwischen lieber selbst die Abschiebegutachter aus, statt das dem zuständigen Gesundheitsamt zu überlassen. Hamburg verfährt längst so, Bremen zieht nach. Im Fall eines Togoers schaltete der Innensenat an der Weser jetzt erstmals selbst einen Psychiater ein, der laut Flüchtlingsanwalt Günther Werner „keine Erfahrung mit Traumapatienten hat“. Zuvor hatte sich Innensenator Thomas Röwekamp (CDU) öffentlich über das Gesundheitsamt lustig gemacht. Das beschränkt sich nämlich nicht auf Transporttauglichkeitsprüfungen, sondern fragt auch nach der Lage im Herkunftsland. Bremens Ärztekammerpräsidentin Ursula Auerswald nennt den neuen Ansatz bei der Begutachtung von Flüchtlingen „miserabel“. Sie hält es für nötig, zu betonen: „Auch Ausländer sind Menschen, auch für sie gilt unser ärztliches Ethos.“

Skrupel in der Ärzteschaft

Köln, Bremen, Frankfurt: Die Mosaiksteine zeigen, wie rührig die Behörden das Projekt vorantreiben, das die Innenministerkonferenz von Bund und Ländern (IMK) seit längerem verfolgt. Unzufrieden über die Skrupel der Ärzte, streben die Innenminister den zentralisierten Einsatz von „bedarfsgerecht qualifizierten Ärzten“ an, die nach einem „bundeseinheitlichen Standard“ arbeiten – will heißen: die auf die Transportfähigkeit der Patienten hin untersuchen und so Abschiebungen erleichtern. Zwar versucht die Bundesärztekammer, die Innenminister davon abzubringen. Doch nach drei Treffen ist der Menschenrechtsbeauftragte der Ärztekammer Hessen, Ernst Girth, „nicht mehr optimistisch“, dass die Innenministerkonferenz umzustimmen ist.

„Mit den ethischen Prinzipien der Ärzteschaft ist weder eine Fesselung von Menschen noch eine ärztliche Abschiebebegleitung gegen den Willen des Betroffenen, auch nicht eine Attestierung der Flugreisetauglichkeit ohne Abwägung der Folgen der Abschiebung für die Gesundheit des Betroffenen vereinbar“, sagt Girth. Doch die Behörden handelten vielfach nach dem Motto „Ein gutes Gutachten ist nur eines, das die Abschiebung nicht behindert“.