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Archiv-Artikel

Warten, bis das Leben anfängt

„Wir haben uns was Bessres drunter vorgestellt“: Der Film „Teuflische Spiele“ von Judith Keil und Antje Kruska über die Selbstmörder von der Göltzschtalbrücke dokumentiert ostdeutsche Kids zwischen HipHop und Hoffnungslosigkeit

Steve arbeitet in der Fleischfabrik in Zwickau. Jeden Tag fabriziert er hunderte von Bratwürsten, lässt die weiche Fleischmasse in die Darmhülle gleiten, hängt die Würste auf einen Ständer und fährt den Ständer in den kühlen Lagerraum. Acht Stunden Fließbandarbeit. Steve ist achtzehn und auf dem Weg zur Arbeit, morgens um fünf im Zug von Reichenbach nach Zwickau hört er sehr laut Limp Bizkit im Discman.

„Ich habe kein Bock mehr auf das Scheißleben. Wir haben uns was Bessres drunter vorgestellt“. Das steht in dem Brief, der bei René, Mick und Mike gefunden wird, nachdem sie sich im August 2001 von der Göltzschtalbrücke bei Reichenbach in Sachsen in den Tod gestürzt hatten und damit für Schlagzeilen sorgten, weil weitere Selbstmörder dem Beispiel folgten. Die drei waren Steves Freunde und eigentlich sollte er damals mitspringen – aber als sie am Vorabend bei ihm klingelten, war er nicht da.

In der Arte-Dokumentation „Teuflische Spiele“ rücken Judith Keil und Antje Kruska, die mit „Der Glanz von Berlin“ gerade den Grimme-Preis gewonnen haben, den Überlebenden Steve in den Mittelpunkt. Und je länger man dem Film zuschaut, desto weniger bleibt übrig von den Schlagzeilen wie „Satansselbstmord an der Göltzschtalbrücke“ oder „Sprung in die Hölle“. Von Todesforen oder satanischen Sekten war vielfach in der Tagespresse die Rede, die die Jugendlichen in den Tod getrieben haben sollen.

Stattdessen sieht man, wie Steve mit seiner Clique am Spielplatz abhängt. Sie tragen coole, hängende Hosen, trinken Bier und rauchen weltmännisch. Sie hören HipHop von Eminem, dem Superstar aus Detroit, den sie bewundern, weil er es geschafft hat. Sie albern vor der Kamera herum und wirken dabei wie tausende anderer Teenager zwischen 14 und 18 Jahren auch – Teenager, die warten, bis das Leben endlich anfängt.

In Interviews mit zwei Freundinnen, einer Nachbarin, einer Lehrerin und Steves Mutter wird das Leben der drei toten Freunde erzählt, aber es ist vor allem Steves Geschichte, auf die der Film immer wieder zurückkommt und durch die man der Gedankenwelt von Mick, Mike und René näher kommt.

Wie schon in ihrem letzten Film werfen Judith Keil und Antje Kruska einen zärtlichen, aber unsentimentalen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Aber anders als der Dokumentarfilmer Ulrich Seidl, der bis zur Schmerzgrenze mit dem Exhibitionismus seiner Protagonisten spielt, beschreiben Judith Keil und Antje Kruska ihre Arbeitsweise mit dem Satz: „Wir schützen unsere Protagonisten, aber wir beschönigen nichts.“

Steve, der mit 18 Jahren noch wie ein zarter, hübscher Junge wirkt, lässt sich mit einer unglaublichen Offenheit filmen, wie er sich zu Hause von seinem arbeitslosen Vater anhören muss, dass er härter werden muss, um es in Reichenbach, in der Wurstfabrik und überhaupt in der Welt zu etwas zu bringen. Der Vater, den die neue Zeit schon längst nicht mehr braucht, raucht dabei Kette und schaut sich alte Bruce-Lee-Filme auf Video an. In langen Interviewpassagen in seinem mit Bravo-Postern tapezierten Zimmer erzählt Steve davon, wie er zusammen mit Mick, Mike und René Kampftraining gemacht hat, um „härter“ zu werden. Immer wieder sehen sie sich den Film „Mortal Kombat“ an, in dem es um Ninja-Kämpfer mit übermenschlichen Fähigkeiten geht, die durch die Luft fliegen und in fantastischen Ritterburgen ihre Kämpfe austragen. Aber springt man deswegen von einer 78 Meter hohen Brücke?

Wie „Teuflische Spiele“ keine einfachen Antworten liefert, wie er ein kompliziertes Geflecht von vielen Wahrheiten zeigt, aber nicht die eine Ursache, die sich in Schlagzeilen pressen lässt: Darin erinnert dieser Film von Judith Keil und Antje Kruska manchmal ein wenig an Michael Moores „Bowling für Columbine“. Und am Schluss geht man aus dem Film, ist froh, dass man nicht weiß, was man denken soll, erinnert sich aber daran, wie hart es ist als Teenager in der Provinz. SANDRA LÖHR

„Teuflische Spiele“. Regie: Judith Keil und Antje Kruska. Deutschland 2002, 60 Min. Noch bis zum 14. 5., jeweils 19 Uhr, Brotfabrik (Prenzlauer Promenade 3, Weißensee). Heute, Samstag, in Anwesenheit des Filmteams und der Jugendlichen aus Reichenbach, die zum Freundeskreis der Selbstmörder gehörten