„Worte kann man auch weglassen“

Geschichten aus der Abteilung für Psychotherapie und Psychiatrie des AK Harburg: Die szenische Lesung „Beinfreiheit“ brachte – umgesetzt durch Nicole Plinz und Sandra Strunz – Texte von Patienten auf die Bühne des Thalia in der Gaußstraße

von CAROLINE MANSFELD

Die Glocke läutet zum Beginn. Im Thalia in der Gaußstraße sieht man andere Gesichter als sonst. „Jetzt gibt es was zu essen“, kommt prompt als Reaktion. Gibt‘s natürlich nicht. Stattdessen geht das Licht aus und der Spot an auf vier Personen an einem Tisch, die Hände ausgebreitet, die Beine frei baumelnd. Beinfreiheit ist auch der Titel der szenischen Lesung, die die Psychologin Nicole Plinz gemeinsam mit der Hamburger Regisseurin Sandra Strunz ins Leben rief.

Plinz hat sich auf „Ästhetische Kommunikation und Kulturwissenschaften“ verlegt und arbeitet in der Abteilung für Psychotherapie und Psychiatrie des AK Harburg. Dort rief sie vor einiger Zeit eine Textwerkstatt für die dortigen Bewohner ins Leben. Und das Ergebnis fiel so reichhaltig aus, dass sich gar eine Aufführung anbot – mit dem Einverständnis der Autoren, versteht sich.

Aufgeregtes Blätterrascheln zu Beginn. „Worte kann man laut und leise sagen. Man kann sie auch weglassen“, rezitiert der Schauspieler Thomas Klees. Irene Eichenberger gibt den Ämterlauf einer Frau wieder, die sich einen neuen Pass machen lassen will. Eine ganz einfache, ja alltäglich banale Geschichte und doch rührt sie in ihrer Bescheidenheit an. Man ahnt die Größe und Tragweite, die sie für ihren Schreiber gehabt haben muss. Matthias Breitenbach sprang kurzfristig für Rainer Süßmilch ein und erklärt, warum es so logisch ist, Eulen nach Athen zu tragen: „Es ist zu weit zum fliegen.“

Susanne Pollmeier bekennt sich zu ihrer „endogen paranoiden Psychose“. Die Worte benennen die Dinge meist schlicht und klar beim Namen, und doch ist es Kunst, Ausdruck von Gefühl oder Gedanken mit einem erkennbaren Willen zur Form. Manchmal unfreiwillig komisch, manchmal nachdenklich. Etwa die Geschichte, wie einer einen großen Plastikeimer mit 15 Liter weißer Wandfarbe kaufte, in die Wohnung trug und dann mit einer Besucherin essen geht. Punktum. Das war‘s.

Zu Beginn verweilen die vier Lesenden noch recht statisch an ihren Plätzen. Einzige Klammer des Abends ist der immer wieder anklingende Song „Because the World“ zu einer Liederorgel. Erst später wird eine Tanzszene simuliert, bei der eine „kesse Biene“ auf einen „dicklichen Herrn“ trifft und ihn zufällig auf die Wange küsst. Susanne Pollmeier erklärt ihre Brieffreundschaft mit einer gewissen Sarah so: „Sie ist so ernst und bedrückt, wie ich auch.“ Matthias Breitenbach erinnert an das „Spannungsmoment des Briefkastenöffnens“, dann wieder will er in seinen eigenen Selbstmord noch einige „Bauern, Katholiken und Elektriker“ mitnehmen.

Mit Sandra Strunz hat die richtige Regisseurin hier behutsam Hand an die Texte gelegt. Strunz, zuletzt am Schauspielhaus mit ihrer Sicht auf Ibsens Frau vom Meer und Hedda Gabler erfolgreich, hat sich schon mit sensiblen Dramen, wie Lukas, ich und mich auf Kampnagel, für psychologische Stoffe empfohlen. Gefördert wurde diese Veranstaltung insbesondere vom Verein „Crazyartists“, der sich integrativen Kunstprojekten widmet und gut noch ein paar Förderer gebrauchen könnte. Ein Abend, der niemanden unberührt zurückließ – auch wenn es nichts zu essen gab.