Der Osten ist auch super

Ostdeutschland gehört zu den ärmsten Regionen der EU. Sicher: Man hat auch Handys, dafür lebt man im Funkloch. Nun reden Leute vom völlig neuen, „positiven Lebensgefühl Ost“. Was ist das?

VON NADJA KLINGER

In Meseberg steht ein Schloss. Der Graf von Wartensleben hat es im 18. Jahrhundert bauen lassen. Seitdem haben sich die Zeiten geändert. Im 19. Jahrhundert kam Fontane vorbei. Er bemerkte die Stille. Selbst die Bäume rauschten leiser als anderswo. Im 20. Jahrhundert kam die Rote Armee. Es wurde laut, weil die Soldaten auf die Skulpturen im Schlossgarten schossen. Dann schlüpften osteuropäische Flüchtlinge im Schloss unter. Dann kam die DDR. Dann die Bundesrepublik.

Die Zeiten änderten sich rasant, aber die Meseberger haben sich das nicht ausgedacht. Sie sind wie andere Menschen auch. Jetzt besitzen sie Handys. Sie benutzen sie kaum, weil ihr Dorf im Funkloch liegt. Sie hatten eine stolze Fußballmannschaft, obwohl es keinen Sportplatz gab, auf dem sie trainieren konnten. Charlie war in dieser Mannschaft. Er war der Star. Mittlerweile gibt es einen schönen Sportplatz, aber keine Fußballer mehr. Charlie ist Mitte 60. Er sitzt im „Dorfkrug“ und isst Bratwürste. Er hilft, wo er kann. Im Sommer ist er vom Kirschbaum eines Nachbarn gefallen. Im Dorf haben sie sich erschrocken. Alles ist anders, aber Charlie ist immer noch der Star.

Nach den Flüchtlingen ist der Kindergarten ins Schloss gezogen, der Konsum, die LPG-Küche. Wohnungen waren drin, die Schule. „Das Schloss war unser geistig-kulturelles Zentrum“, hat der ehemalige Schüler Thomas Strahl vor ein paar Tagen in einem Fernsehinterview gesagt. Das Fernsehen kam, weil zukünftig die Bundesregierung das Schloss als Gästehaus mieten wird. Im „Dorfkrug“ sitzen Meseberger und fragen sich, warum. Es gibt nur eine Erklärung. „Hier ist es ruhig“, sagt der Wirt.

Sie sind 165 Einwohner. Sie waren viel mehr. Schon zu DDR-Zeiten gingen junge Leute weg, nach der Wende erst recht. Die Hälfte der Dorfbewohner sind Rentner, der Rest hat kaum Arbeit. Bald wird der Schulbus nicht mehr vorbeikommen. Voriges Jahr ist kein Kind eingeschult worden, dieses Jahr wird’s nur der kleine Micha sein. Bis letzten Sommer hatte Meseberg noch 3.000 Schweine. Aber die Ernte war schlecht. Das Futter kostete im Einkauf mehr, als das Fleisch einbrachte.

Thomas Strahl, der im Schloss zur Schule gegangen ist, wurde Tiefbauingenieur. Er hat in Russland gebaut. Er hat mit seiner Baufirma die Hamburger Reeperbahn saniert. „Wie Sonnenstrahl“, sagt er, als er den Fernsehleuten seinen Nachnamen diktiert. Er ist anders als sein Dorf. Meseberg strahlt nicht. Man lebt hier im Schatten der Ereignisse. Es gibt Höfe mit hohen Toren, aber kein Zentrum, schon gar kein geistig-kulturelles. Manchmal ruft jemand im „Dorfkrug“ an und bestellt Essen. Der Wirt bringt den Leuten die Teller nach Hause.

1997 hat Werner Paarmann den „Dorfkrug“ übernommen. Er hat Touristen angelockt, die das Schloss besichtigt haben und um den Huwenowsee spaziert sind. Er hat Preisskat veranstaltet. Er hatte ein paar gute Jahre. Dann ging’s bergab. Seit der Euro da ist, droht der Wirt regelmäßig an zu schließen. Niemand schreit auf. Paarmann bleibt. Wer will schon in aller Stille gehen? Nach den Festlegungen der Europäischen Union zählt Ostdeutschland zu ihren ärmsten Regionen. Es erhält finanzielle Höchstförderungen aus Brüssel. Bis jetzt. Bald treten zehn neue, arme Länder der EU bei. Ist der deutsche Osten im Vergleich nun reicher? Man hat das überprüft. Es heißt, dass ab 2007 Leipzig, Halle, Dresden und der Süden Brandenburgs aus der höchsten Förderstufe herausfallen. Meseberg liegt im Norden Brandenburgs. Das Gefühl, arm dran zu sein, entspricht dem Stand der Dinge. Das ist doch schon mal was.

Positive Ost-Zeitschrift

Aus dem Süden des Bundeslandes kommt jetzt eine neue Zeitschrift. Sie erscheint seit März alle zwei Monate und heißt Gute Idee. Ihr Chefredakteur Simon Kaatz macht „die erste Zeitschrift für das neue, positive Lebensgefühl Ost“. Kaatz hat es auf Käufer in der deutschen EU-Förderzone abgesehen. Für knapp zwei Euro bekommen sie Tipps für Haus und Garten. Sie erfahren, dass die Westwaschmittel „Rei“ und „Sanso“ in Ostdeutschland hergestellt werden. Sie lesen, dass ein Mecklenburger Ostcremes und Ostkondome verkauft. Man berichtet ihnen, dass es wieder „Hansa-Kekse“ geben wird. Sein Heft wolle betont unpolitisch sein, sagt der Chefredakteur. Das ist wirklich eine gute Idee. Es ist seine einzige Chance, dem Leser ein positives Lebensgefühl zu geben.

Bis dahin ist auf allen Seiten von „uns“ die Rede. Man sagt „wir“. Wir (Ostdeutschen) freuen uns, dass Ostprodukte in die Supermarkt-Regale zurückkehren! Wir sind flexibler (als die Westdeutschen)! Bei uns gibt es noch Zusammenhalt! Bei uns „existieren Werte wie Familiensinn, die im Westen in fernöstlichen Selbstfindungskursen mühsam wieder erlernt werden“. Wenn unser „Unternehmer Schwierigkeiten hat, packt die ganze Belegschaft mit an“. Alle Zitate sind von Simon Kaatz, der „gelernter Westler“ ist, wie sie im Meseberger „Dorfkrug“ feststellen und dem dann ganz gefasst kein Wort mehr hinzufügen würden.

1995 hat die Bayerische Messerschmitt-Stiftung das Meseberger Schloss gekauft und zu restaurieren begonnen. Mit jedem neuen Stein, jedem Klecks Farbe und dem frischen Grün im Barockgarten sah man deutlicher, wie die Häuser ringsum bröckelten, welche Baumarkt-Sonderangebote an den Fassaden hafteten oder dass Vordächer aus grellgelbem Plastik montiert worden waren. Plötzlich war das Schloss der Fremdkörper von Meseberg. Die es restaurierten, waren Eindringlinge. Dabei hat sich die Messerschmitt- Stiftung ebenso viel mit dem Dorf befasst wie mit der herrschaftlichen Bausubstanz. Wer seine Fassade unter Beratung des Schlossarchitekten saniert, bekommt Geld. Am Weinberg des Schlosses durfte im Herbst das ganze Dorf ernten, soviel jeder tragen konnte. Manchen Einwohnern hat die Stiftung Land abgekauft, um es vor Bebauung zu schützen. Es handelte es sich um karge Wiesen, von denen viele Leute gar nicht wussten, dass sie sie besaßen.

Dafür hatten sie jetzt 40.000 Euro. „Der Stiftungschef läuft in Gummistiefeln winkend durchs Dorf“, sagt Strahl, „der könnte nicht besser für uns sein.“ Paarmann meint: „Sonst hat der mit anderen Kalibern zu tun. Trotzdem ist er kein eitler Fatzke.“

Die Meseberger würdigen das kaum. Sie reden nicht schlecht über den Stiftungschef. Aber sie klatschen auch nicht Beifall, nur weil einer kein Lackaffe ist. Sie könnten was tun, meint Strahl. An ihren Fassaden zum Beispiel.

Weil am Schloss gebaut wird, lebt der „Dorfkrug“ überhaupt noch. Der Wirt hat die Bauleute versorgt, sie haben in der Wohnung in der oberen Etage geschlafen. Paarmann könnte die Zimmer jetzt eigentlich ausbauen. Die Bundesregierung meint es ernst, sie wird pro Jahr 100.000 Euro Installationsrücklagen aufbringen und die Gartenarbeit finanzieren. „Gärtner und Kraftfahrer werden nicht im Schloss schlafen“, sagt der Wirt. Eine Zeitung hat behauptet, er könne es kaum erwarten, der Queen, dem US-Präsidenten oder dem UN-Generalsekretär ein Bier zu zapfen. Paarmann hat das nie gesagt. Niemand im Dorf macht einen aufgeregten Eindruck. Sie könnten alle Gästezimmer einrichten. Wenn jemand das vorhätte, hätte man davon gehört.

Letzte Woche hat der Stiftungschef im „Dorfkrug“ einen Ausblick auf die Zukunft gegeben. Dass der Bau bis Ende 2005 beendet sein soll. Dass die Straße zur B 96 schon bald fertig wird. Dass es am Schloss hin und wieder Sicherheitsmaßnahmen geben wird. Dass die Badestelle am See weiter genutzt werden kann. Das Bier hat er den Leuten bezahlt. Sie tranken und schwiegen. Sie haben nicht gefragt, ob am Schloss für sie ein Arbeitsplatz herausspringt. Der Stiftungsmann fügte hinzu, er wolle mit ihnen alle Probleme lösen, bevor die Bundesregierung komme. Er hat sich mit ihnen verbündet. Und gesagt, dass er sich freuen würde, wenn zur offiziellen Schlossübergabe viele erscheinen würden, um zu zeigen, dass das Dorf die Regierung freundlich aufnimmt. Brandenburgs Ministerpräsident war da, sein Stellvertreter, der Bundesverkehrsminister und der Kanzleramtssprecher. Im Dorf ist kaum einer aus seinem Haus gekommen. Thomas Strahl wurde interviewt. Die Nachbarn haben ihn im Fernsehen gesehen.

Am Wochenende nach der Übergabe war Meseberg mit Autos voll geparkt. Von überall kamen Leute, um das Gästehaus-Schloss zu sehen. Im „Dorfkrug“ aßen sie Zigeunersteak. Sie plauderten mit dem Wirt. Es war, als wäre das Dorf größer geworden. Was für ein Mittagsgeschäft! Ein kurzer Ausblick auf das, was kommen könnte! „Im Januar, Februar hatten wir Tage mit drei Gästen“, sagt der Wirt.

„Gar keine Gäste waren da!“, ruft Frau Swetlana aus der Küche.

„Ich rede vom Wochenende!“, ruft Paarmann zurück.

Der Architekt des Schlosses ist von Westberlin hierher gezogen. „Ostdeutsch zu sein, muss ein Markenzeichen werden“, heißt es in der Zeitschrift Gute Idee, „dabei ist es egal, wo man geboren ist.“ Das Markenzeichen des Architekten ist, dass sich mit ihm die Zeiten wieder mal geändert haben. Er hält sich schwarze Schwäne. Er hat sie gestutzt, damit sie nicht fortfliegen. Neulich sind sie weggerannt.

Das erzählt man sich im „Dorfkrug“. Er habe sie mit dem Auto eingeholt. Auf dem Rückweg hätten sie ihm gehörig die Sitze voll geschissen. „Würde ich auch machen, wenn ich ein gestutzter Schwan wäre“, sagt ein Gast. Dann widmet er sich wieder seinem Zigeunersteak.