„Es ist ein Horror! So kann man doch nicht leben!“

Auf Madrids Straßen treffen sich die Bürger. Sie leben, sie trauern. Der Schuldige scheint klar: die ETA. „Feige Mörder“ ist überall zu lesen

An einer U-Bahn-Station sind Schreie zu hören. Sofort stürzen alle Passanten zum Ausgang

MADRID taz ■ Innerhalb weniger Stunden war in Madrid der Ausnahmezustand eingekehrt. Überall waren die Sirenen der Krankenwagen zu hören, vor den Krankenhäusern der Stadt standen schon gegen Mittag Trauben beunruhigter Madrilenen, die nach verwundeten Familienangehörigen suchten oder Blut spenden wollten. An den öffentlichen Gebäuden hingen ab elf Uhr die Nationalfahnen auf Halbmast, an manchen Privathäusern flatterten riesige schwarze Fahnen. Um ein Uhr standen Menschenmengen vor den staatlichen Institutionen als Zeichen der Trauer und der Wut angesichts der neuerlichen Anschläge. Obwohl der Verkehr sich schon bald normalisierte, mancherorts Fußgänger in den Straßen flanierten, als wäre nichts geschehen, war doch überall deutlich Nervosität zu spüren. In den großen U-Bahn-Stationen drängten sich die Passanten vor den Bildschirmen, auf denen ununterbrochen die gleichen Szenen weinender Menschen, blutüberströmter Leichen und rennender Sanitäter gezeigt wurden. Aus Gründen, „die nichts mit der U-Bahn-Betreiberfirma zu tun haben“, sei die Haltestelle Bahnhof Atocha gesperrt, sagte eine Frauenstimme über die Lautsprecher ununterbrochen an. An einer Haltestelle der U-Bahn waren Schreie zu hören, sofort stürzten alle Passanten auf den Bahnsteig und rannten auf den nächsten Ausgang zu – Anzeichen von Panik an einem Tag, an dem die Zahl der Toten ständig stieg wie auch die Anzahl der Bomben, die gefunden worden waren. Am Ende waren es zehn, drei waren explodiert. „Es ist ein Horror! So kann man doch nicht leben!“, schrie eine junge Frau, die zum Ausgang gerannt war und dann wieder angehalten hatte, während ein alter Alkoholiker sie zu beruhigen versuchte. „Jetzt macht doch nicht so ein Theater“, sagte der Mann, während er sich einen Weg durch die panische Menge zu bahnen versuchte. Ältere Herren kehrten als erste in die verlassene U-Bahn zurück und verschanzten sich in vorgetäuschter Ruhe hinter ihren Zeitungen.Als Erste hatte die rechtsradikale Zeitung La Razon eine Sonderausgabe herausgebracht, die bereits ein Foto von Verletzten zeigte und auf der die Mörder angeklagt wurden. Um ein Uhr mittags hatten sich an der Puerta del Sol hunderte Demonstranten eingefunden, um in einer sofortigen Reaktion gemeinsam die Anschläge zu verurteilen – am heutigen Freitag sollen in ganz Spanien weitere Demonstrationen folgen. Es war eine ungewöhnlich uneinheitliche Demonstration: Ältere Damen mit Silberlöckchen, dicken Goldringen und Pudeln im Arm standen dort mit versteinertem Gesicht, aber auch junge Leute hatten sich eingefunden, sie schwiegen zumeist, in hilfloser Wut. Viele hatten sich einen weißen Zettel mit der Aufschrift „ETA no!“ ans Jacket geheftet, die sie möglicherweise noch von anderen Anti-ETA-Demonstrationen zu Hause liegen hatten. Ein kleiner Chor vor dem Rathaus schrie „ETA – Mörder!“ und „Verfassung!“, während eine junge Punkerin, die an einem Eisengitter hochgeklettert war, von dort aus in die Menge rief: „Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine.“ Wenige Stunden nach den Anschlägen klebten bereits Zettel an Laternenpfählen mit der Aufschrift: „ETA – feige Mörder“, überall hörten Leute Radio und sahen fern. Niemand schien den Schatten eines Zweifels daran zu haben, dass die Anschläge auf das Konto der ETA gehen. ANTJE BAUER