Winterschlaf

Laut Deutschem Psychotherapeutenverband sind Depressionen „Volkskrankheit Nummer 1“. Alleine in der Republik sind jährlich über drei Millionen Menschen betroffen. Weltweit leiden über zweihundert Millionen Menschen unter der Erkrankung. Tendenz steigend. Zehn Prozent der Erkrankten begehen Suizid.

Es gibt viele Anzeichen für Depressionen. Betroffene können sich über nichts mehr freuen, schaffen es nicht, Entscheidungen zu treffen, haben Probleme beim Einschlafen und Aufwachen, sind antriebslos, leiden unter Konzentrations- und Denkstörungen. Oft wird die Krankheit allerdings erst spät erkannt, weil bei vielen Patienten körperliche Symptome hinzukommen. Um eine medikamentöse Therapie mit Antidepressiva und eine Psychotherapie kommen die meisten Erkrankten auf Dauer nicht herum.

Welche Menschen bekommen Depressionen? Grundsätzlich kann jeder in seinem Leben eine depressive Episode haben. Fälle in der Familie erhöhen das Risiko die weit verbreitete Gemütserkrankung zu bekommen, genauso wie massive Einschnitte im Leben und mangelnde soziale Bindungen. Frauen erkranken ungefähr doppelt so häufig an einer Depression wie Männer. Die Ursache für dieses Ungleichgewicht ist bis jetzt nicht geklärt.

Noch immer ist diese Krankheit tabu, schlichtweg nicht gesellschaftsfähig. Denn man kann sie weder sehen noch verstehen. Viele Menschen, die an Depressionen leiden, wirken für ihre Mitmenschen keineswegs krank. Sogar Psychiater und Psychologen würden Betroffene häufig abwerten, ihnen eine unreife und zur Abhängigkeit neigende Persönlichkeit unterstellt, erklärt Professor Daniel Hell von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich auf seiner Internetseite www.depression.unizh.ch.

Im Mittelalter wurde die Depression gar wie eine Todsünde behandelt. Und auch heute noch ist das Negative, das einer Depression anhaftet, präsent. Depressive gelten als Hypochonder oder als faul. So fühlen sich depressive Menschen oft verurteilt, empfinden sich als Versager, die erforderte Leistungen nicht erbringen. Die Betroffenen leiden nicht nur an ihrem Zustand, sondern auch daran, wie ihre Umgebung ihren Zustand einschätzt. Fakt ist: Je mehr sich depressive gegen ihren Zustand wehren, desto stärker leiden sie unter ihrer Hilflosigkeit.

Partner und Angehörige bekommen die Auswirkungen der Depression hautnah zu spüren. Leider sind auch sie hilflos und infolge ihrer Versuche, die Erkrankten zu unterstützen, frustriert. Sie können nicht wirklich etwas am Zustand des Kranken verbessern. Eine lange Liste von Geboten im Umgang mit dem Depressiven lässt erahnen, wie stark auch die Angehörigen im Bann der Krankheit stehen. „Was Depressive brauchen, ist weder Belehrung noch Vertröstung, weder Aufmunterung noch Kritik“, so Hell.

Depressive Menschen sind unfähig, zu fühlen und Zuneigung zu zeigen. Das Zusammenleben mit ihnen führt unter den Angehörigen über kurz oder lang zu Frustration. Trotzdem ist die einzige Hilfe, die Betroffene vor allem brauchen, Zuneigung, Bestätigung und Geduld. Es klingt paradox: Trotz der großen Belastung für den Partner soll die depressive Krise oft kittend für die Beziehung wirken.

Gibt es einen Sinn hinter Depressionen? Depressive suchen Schutz in einer überwältigenden Notlage. Der Körper schaltet auf Sparflamme. „Weil man zu schnell sich verbrauchen würde, wenn man überhaupt reagiert, reagiert man gar nicht mehr … lebenserhaltend unter den lebensgefährlichen Umständen ist die Herabsetzung des Stoffwechsels eine Art … Winterschlaf“, so ein Zitat von Nietzsche. Letztendlich aber gibt es nur den Sinn, den die Erkrankten selbst in der Depression selbst sehen. TANJA HÖFLING