Ein Spion im Dienste Ihrer Majestät

Der stellvertretende Sicherheitschef der IRA, Scappaticci, war 25 Jahre lang Agent „Stakeknife“ der britischen Armee

Dass ein Agent namens „Stakeknife“ existierte, wurde in Nordirland seit Jahren gemunkelt. Am Wochenende wurde er enttarnt: Alfredo Scappaticci, der stellvertretende Chef des Sicherheitsdienstes der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), hat seit 25 Jahren für die britische Armee spioniert. In ihrem Auftrag hat er Menschen verhört, gefoltert und ermordet. Für seine Dienste bekam er 80.000 Pfund im Jahr, umgerechnet rund 120.000 Euro. Das Geld liegt auf einem Konto in Gibraltar, denn ausgeben konnte er es nicht, sonst hätte er sich verdächtig gemacht. So gelang es ihm, selbst innerhalb der IRA und ihres politischen Flügels, Sinn Féin, ein relativ bescheidenes Profil zu wahren.

Scappaticci, ein kleiner Mann mit dichten, dunklen Haaren, ist Mitte 50. Er stammt aus Westbelfast, seine Eltern waren aus Italien eingewandert. Der Maurer schloss sich Ende der Sechzigerjahre der IRA an. 1971 wurde er ohne Anklage im Gefangenenlager Long Kesh bei Belfast interniert. Dort lernte er den heutigen Sinn-Féin-Präsidenten Gerry Adams kennen, mit dem er seitdem eng befreundet ist. Zum Agenten wurde er aus Rache. 1978 wurde er nach einem Streit mit einem hochrangigen IRA-Mann brutal zusammengeschlagen. Scappaticci ging schnurstracks zur nächsten Kaserne und bot der britischen Armee seine Dienste an. Die „Force Research Unit“ (FRU), eine undurchsichtige britische Spionageeinheit, die niemandem rechenschaftspflichtig ist, versorgte ihn mit Informationen, die seiner Beförderung innerhalb der IRA dienlich waren, sodass er Anfang der Achtzigerjahre an die Spitze des Sicherheitsdienstes aufstieg. Er kümmerte sich um IRA-Mitglieder, die als Spitzel verdächtigt wurden, er verhörte sie und brachte sie in vielen Fällen danach um. Außerdem überprüfte er neue Mitglieder und entschied, ob sie IRA-tauglich waren.

„Die FRU spielte Gott“, sagte ein britischer Agent. „Sie entschied, wen Scappaticci beiseiteräumen konnte und wer getötet werden musste, um seine Identität zu schützen.“ Bis zu 40 Morde gehen auf sein Konto. Darüber hinaus musste eine ganze Reihe von Menschen sterben, um ihn zu schützen. So plante eine loyalistische Todesschwadron 1987, Scappaticci zu erschießen, doch ein anderer FRU-Agent, Brian Nelson, lenkte die Aufmerksamkeit auf Francisco Notorantonio, einen unbeteiligten Rentner, der stattdessen ermordet wurde.

Gerüchte über die Existenz von Stakeknife tauchten erstmals vor drei Jahren auf. Prekär wurde es für Scappaticci, als John Stevens, der höchste britische Polizeibeamte, vorigen Monat öffentlich erklärte, er wolle „Stakeknife“ verhören. Sollte es ihm gelingen, Scappaticci zur Aussage zu bewegen, würden seine Enthüllungen nicht nur die IRA schwer erschüttern, sondern vor allem auch die britische Politik. Schließlich sind drei Regierungschefs formal für die Aktionen der FRU und damit auch für Scappaticci verantwortlich: Margaret Thatcher, John Major und Tony Blair.

Ob Stevens den enttarnten Agenten jedoch überhaupt zu Gesicht bekommt, ist zweifelhaft. In der Nacht zum Sonntag verschwand Scappaticci. Die britische Armee wird ihn ins Ausland schaffen und ihm zu einer neuen Identität verhelfen. Dann kann er endlich das Vermögen ausgeben, das er in den vergangenen 25 Jahren angehäuft hat.

RALF SOTSCHECK