Streik gegen Pariser Rentenreform

Frankreich erlebt die größte soziale Bewegung seit 1995. Die Regierung will ihr umstrittenes Gesetzespaket noch vor der Sommerpause durchs Parlament bringen. Einzelne Branchengewerkschaften erwägen eine Verlängerung des Ausstands

aus Paris DOROTHEA HAHN

„Fillon, Fillon!“, skandiert eine Gruppe von Müllmännern auf dem Boulevard Voltaire an die Adresse des Arbeitsministers: „Wir entscheiden. Denn wir arbeiten“. Inmitten von Weißkitteln aus einem Vorstadt-Krankenhaus schwenkt eine Ärztin den Slogan: „Schick – ein Streik“. Zöllner vom Flughafen Roissy wollen „die Profite besteuern“. Lehrer beschimpfen die Regierung wegen „sozialer Missachtung“. Und Metallarbeiter vom Fließband bei Citroën haben das Bruttoinlandprodukt ermittelt: „2001: 1.460 Milliarden Euro – 2002: 1.520 Milliarden Euro“, steht auf ihrem Transparent. „An Geld“, so ihre Schlussfolgerung, „mangelt es in diesem Land nicht“.

Rund 250.000 Menschen demonstrieren an diesem Dienstag in Paris gegen die Pläne der Regierung, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und die Rentenhöhe zu senken. In Marseille sind 200.000 Demonstranten unterwegs. Landesweit rund eine Million. Hinzu kommt der nationale, branchenübergreifende Streik, zu dem sämtliche Gewerkschaften aufgerufen haben. Vor allem im öffentlichen Dienst wird er mehrheitlich befolgt. Ein großer Teil des Zug-, Bus- und Bahnverkehrs steht still. Die Schulen bleiben zu. Auch zahlreiche Geschäfte sind geschlossen.

Für die Regierung ist es ein harter Dienstag. Sie will ihr Rentengesetz noch vor der Sommerpause durch das Parlament bringen. Vor dem Streiktag hat Premierminister Jean-Pierre Raffarin gewarnt: „Nicht die Straße, sondern die Regierung entscheidet.“ Nun hat er es mit der größten sozialen Bewegung seit 1995 zu tun. Damals brachte ein wochenlanger Streik im öffentlichen Dienst die Rentenpolitik einer anderen rechten Regierung zu Fall. Hinzu kommt, dass die Mehrheit aller Franzosen hinter den Streikenden steht. Heute wie damals.

Die Demonstranten schätzen den Erfolg ihrer Proteste vorsichtig ein. „Jetzt hängt alles davon ab, wie es weitergeht“, sagt eine Lehrerin, „wenn wir morgen weiterstreiken, können wir die Pläne der Regierung vielleicht ändern.“ In einzelnen Branchen diskutieren die Gewerkschaften bereits über eine Verlängerung ihres Streiks. Arbeitsminister Fillon seinerseits bietet den Gewerkschaften „Gespräche“ an. Er wird versuchen, mit punktuellen Angeboten an einzelne Organisationen die Gewerkschaftsfront zu brechen.

An der Basis haben viele Beschäftigte lange nachgedacht, bevor sie sich zum Streik entschieden haben. Denn ein Streiktag ist ein Tag ohne Lohn. Für Briefträgerin Estelle, die in Postuniform mitdemonstriert, sind das 46 Euro. „Bei uns fehlen nach einem Streiktag 90 Euro in der Kasse“, sagt die 24-Jährige, deren Freund ebenfalls streikt.

Dass die sozialdemokratisch-grüne Regierung in Berlin ähnliche rentenpolitische Pläne hat wie die rechte in Paris, ist in Frankreich bekannt. „Wenn es uns gelingt, unsere Regierung zurückzudrängen“, glaubt Metallarbeiter Rodolphe, 35, „werden vielleicht auch die Gewerkschaften in Deutschland zu einem Streik aufrufen.“