Von verlorenen Stränden

Eher spätherbstlich als zum Mitsummen geeignet: Die Indie-Veteranen „Yo La Tengo“ und der exzellente Singer/Songwriter M. Ward gastieren am Sonntag mit ihren Melancholie-Entwürfen in der Fabrik

von MATTHIAS SEEBERG

Seine ausschließlich beruhigende und lebensbejahende Metaphorik hat das vom Wellenrauschen begleitete Bild eines einsamen Strandes nicht erst seit Alex Garlands Traveller-Bibel The Beach verloren. Denn bereits in den oftmals fälschlich auf die Trias Sommer, Sand und Sonnenschein reduzierten Surfhymnen der Beach Boys liegt eine Melancholie verborgen, die weniger an reale Paradiese denken lässt als vielmehr an die seltener sonnendurchfluteten Strandlandschaften unserer Seele.

Auf dem aktuellen und mittlerweile elften Album des in Hoboken, New Jersey, beheimateten Trios Yo La Tengo ist diese Ambivalenz zu einem akustischen Substrat geronnen, dessen Faszination gerade darin besteht, dass es sich einer treffenden Interpretation entzieht. Die auf Summer Sun versammelten Stücke erscheinen auch nach mehrmaligem Hören eher als Soundtracks einer spätherbstlichen Meditation denn als Songs, die zum Vor-Sich-Hin-Summen oder gar Mitsingen einladen. In ihrer psychedelischen Lethargie und introspektiven Molllastigkeit zelebriert die Mehrzahl der Titel die Sehnsucht nach einem Endless Summer, die aber ohne weiteres in einen schwermütigen Traum von Verlorensein und Einsamkeit umschlagen kann.

Die gebremste Grundstimmung und die von Zurückhaltung geprägte Atmosphäre, die manchen Kritiker das letzte Yo La Tengo-Album And Then Nothing Turned Itself Inside Out als „ihr reifstes Werk“ bezeichnen ließ, erfahren in den neuen Stücken eine von wunderschönen Melodien begleitete Fortsetzung, die solches viel geschmähten Superlativs um kein Haar weniger würdig erscheint. Zwar fallen die berüchtigten, minutenlangen Feedbackorgien früherer Alben zu gunsten warmer Slideguitar- und Xylophonklänge inzwischen etwas sanfter aus, doch ein Echo des Auftritts der Band in der Rolle von Velvet Underground in Mary Harrons Doku-Drama I Shot Andy Warhol ist da immer noch deutlich zu vernehmen. So bekommt das anfänglich in seiner Wirkung an eine laue Sommernacht erinnernde „Nothing But You And Me“ durch zunehmend eingestreute kantige Geräusche einen Hauch düsterer Bedrohlichkeit, und das eröffnende Instrumentalstück „Beach Party Tonight“ lässt Gedanken an verführerische Sonnenuntergänge gar nicht erst aufkommen.

Der Besuch des Konzerts lohnt sich aber nicht nur wegen der seltsamen Sounds der von Yo La Tengo bei ihren Live-Auftritten oft und gern verwendeten Farfisa-Orgel, sondern auch aufgrund des exzellent ausgewählten Vorprogramms: Der sich wohl am ehesten als Singer/Songwriter verstehende M. Ward hat mit seinem vor wenigen Wochen erschienenen dritten Album Transfiguration Of Vincent einen erneuten Beweis angetreten, dass in der Kombination traditioneller stilistischer Versatzstücke aus Folk, Blues und Country die Wiege von etwas völlig Eigenem bestehen kann. Mit seinem bizarren Gitarrenspiel und seiner klaren Stimme, die, selbst wenn sie rauchig klingen will, ihre traurige Zerbrechlichkeit nicht verliert, und den von elektronischen Geräuschen verfremdeten Countryrhythmen bilden die Songs des Youngsters aus Portland das bisher fehlende Bindeglied zwischen John Fahey und Jim O‘Rourke.

Diese Art ästhetischer Metamorphose erscheint in den Texten sogar als existentielle Überlebensstrategie, wenn etwa davon gesungen wird, wie der von den unvermeidlichen Tücken des Lebens geplagte Patient vom Arzt als Rezept den gut gemeinten Rat bekommt: „write a sad, sad song“. Davon hat das Album neben einer Coverversion von David Bowies „Let‘s Dance“ eine ganze Reihe zu bieten – ob sich das Konzept der Transfiguration bei M. Wards Live-Auftritt auch auf das Publikum übertragen lässt?

Sonntag, 21 Uhr, Fabrik