Ein Berg aus Beton

Der Siegener Tagesbruch weckt Erinnerungen an den Wattenscheider Schlund vor vier Jahren. Da wie dort hat das tiefe Loch die Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben. Die meisten werden wohl nicht zurück kehren können. Nach den Erfahrungen im Bochumer Vorort veranlasste Ministerpräsident Clement Probebohrungen für insgesamt 37,5 Millionen Euro. 23 Millionen Euro sind bereits verbraucht. Nun muss auch im Siegerland gebohrt werden.

AUS SIEGEN BORIS R. ROSENKRANZ

Siegen, morgens. Der Himmel ist verhangen, die Luft eisig. Auf dem Rosterberg, einer Siedlung am Rande der Innenstadt, klemmen blasse Reihenhäuser die Gläserstraße ein. 60er-Jahre-Blöcke, nicht chic, aber sie erfüllen ihren Zweck. Überall lauern penibel gestutzte Hecken, nirgends aber Menschen. Und wenn doch welche auftauchen, dann haben sie mindestens einen Krieg erlebt.

Vor einem Monat eilten hier noch Polizisten und Feuerwehrleute durcheinander, rollten Bagger an, irrten Menschen umher, die sich permanent Pressemikros ins verzweifelte Gesicht drücken ließen. Kurz vorher hatten sie ihre Wohnungen räumen müssen, hatten das Nötigste zusammen gerafft: wichtige Dokumente, Bargeld, vielleicht ein paar Fotos. Heute ist die bürgerliche Normalität, um nicht zu sagen: Tristesse in die südwestfälische Stadt zurück gekehrt. Fernsehkameras und Helfer sind abgezogen, Stille liegt über der Szene. Nichts deutet mehr darauf hin, was hier geschehen ist – fast nichts, denn irgendwo rumort es immer noch.

Es knurrt, dröhnt, etwas windet sich. Knapp hinter der Kurve, nach der die Straße steil den Berg hinab fällt, kommt das Geräusch immer näher. Grellgelbe Schilder an Bauzäunen verbieten, weiter zu gehen. „Betreten verboten! Einsturzgefahr!“ Aha, hier muss er also sein, jener Ort, wo sich Mitte Februar der Erdboden öffnete und zügig alles verschluckte, was auf ihm stand: einen Baum, ein Stück Wiese, die Ecke eines Hauses, einfach heraus gebrochen – wie aus einem Lebkuchenhaus. Mächtige Bohrmaschinen drehen sich hier nun in den Grund, graben, suchen nach weiteren Stollen des alten Erzbergwerks, dessen Skelett fast 80 Jahre nachdem die Grube still gelegt wurde, teilweise zusammenbrach. So war das Loch entstanden. Bergbauer nennen es einen Tagesbruch.

Rückblende: Anfang Januar hatten sich an den Häusern erste Risse gebildet, etwa daumendicke Spalten. Der Eigentümer alarmierte daraufhin das Bergamt in Recklinghausen, was keineswegs eine panische Reaktion war, hatte sich doch am selben Ort in den 1960er Jahren schon einmal ein Tagesbruch aufgetan. Kleiner als der Schlund heute, aber, so wissen die Menschen jetzt: ein Signal. Das Bergamt war damals sofort angerückt, hatte die Hohlräume mit Beton gefüllt. „Keine Gefahr mehr!“, proklamierten die Experten. Allmählich wuchs Gras über die Sache.

Knapp 40 Jahre später dann diese Risse. Für Norbert Vierhaus eine Warnung: Hier regt sich wieder was, hier könnte es erneut gefährlich werden. Vor allem deswegen, weil der Sprecher des Bergamtes vermutet, dass der ganze Berg untergraben ist. Quer und kreuz schlängeln sich die Seitenarme der Stollen unter den Häusern her, einige davon dicht unter der Oberfläche. Genau kann Vierhaus das nicht sagen. Zwar führt die Historie der so genannten Grube „Hohe Grethe“ weit in die Jahrhunderte zurück: bis sie 1927 geschlossen wurde, zählte sie zu den wichtigsten Werken im Bergrevier Siegen II. Doch ihre Betreiber waren mit bürokratischer Ordnung nicht gerade verheiratet: Exakte Pläne des Gängewirrwarrs existieren laut Vierhaus heute nicht mehr. Ein Besitzer, der haftbar gemacht werden könnte, lasse sich auch nicht mehr finden.

Der Bergamts-Sprecher sitzt in einem Bürocontainer auf dem unterhöhlten Gelände und reißt Bergbauerwitze: „Wir müssen die A 45 sperren! Tagesbruch auf einer Brücke!“ Gelächter. A 45 sperren! Tagesbruch auf einer Brücke! Hihi. Dann wird er ernst, schiebt seine Brille hoch: „Die Risse konnten wir eindeutig auf Bergbau zurück führen“, erzählt er. Im Januar sei das Bergamt gerade dabei gewesen, ein paar Straßen weiter einen Spielplatz zu unterfüttern. Prävention – wie so oft im Stadtgebiet. Vierhaus zog die Geräte sofort vom Spielplatz ab, um die Häuserreihen in der Gläserstraße zu sichern. „Am ersten Tag haben wir gebohrt und Lockermassen entdeckt, anderntags haben wir begonnen, die Hohlräume zu füllen.“ Und dabei ist es passiert: Das Erdreich gab nach. In den Häusern befanden sich derweil noch Menschen. Obschon Vierhaus heute zugibt, der Tagesbruch habe sich angekündigt, wurden alle erst evakuiert, als es fast schon zu spät war. „Das war eine Gratwanderung“, gesteht Vierhaus und zündet eine Zigarette an.

Dass der Boden rutschte, gerade weil sie Beton eingefüllt haben, das kann er auch nicht ausschließen. Danach floss der Beton in Strömen. Das heißt: Es sah sehr putzig aus, wie das Rinnsal in die klaffende Erdwunde floss. Hat auch nicht viel gebracht. Der Beton, erzählt Vierhaus, habe sich einen Weg durchs Labyrinth gesucht, immer tiefer in den Berg hinein. Dann wurde das „Siegener Loch“ verschalt, damit der Beton an der Oberfläche bindet. Bis heute sind über 1000 Kubikmeter, also 125 Betonmischer-Ladungen geströmt. Und würde man die über 150 Bohrlöcher aneinander reihen, käme man auf eine Länge von rund 4 Kilometern. Während Vierhaus das alles berichtet, steckt ein älterer Herr seinen Kopf durch die Tür. „Dürfen wir ins Haus?“, fragt er vorsichtig. Er darf, aber nur kurz.

Vier Häuser sind damals evakuiert worden. Zwei davon durften am Wochenende wieder bezogen werden, da sie sicher auf Fels stehen. Das Haus ohne Ecke aber und ein weiteres, das damit verbunden ist, sind weiter einsturzgefährdet. Vor einer Woche packte hier die Feuerwehr beim Umzug mit an. Auch bei Dirk Kleppa, der aus der Landes-Notfallhilfe, die bisher rund 100.000 Euro ausgeschüttet hat, 2.500 Euro erhielt nebst einer Sozialwohnung von der Stadt. „Dort werde ich wohl bleiben“, sagt der Zeitsoldat, der gerade in der Kaserne weilt. Kleppa ist müde: Neben dem Verlust seines Heims musste er auch die Schikanen seines ehemaligen Vermieters ertragen. Der behielt die Kaution für die Wohnung ein, für Zimmer, mit denen sich vermutlich sowieso die Abrissbirne beschäftigen wird. Dreckig sei es dort (vom Schlamm an den Stiefeln der Feuerwehrleute), mäkelte der Hauseigner, und außerdem müsse Kleppa noch Bohrlöcher stopfen. „Meine Nerven“, resigniert der Soldat, „lassen es nicht zu, dass ich mich weiter streite.“ Zudem weiß der 40jährige von Nachbarn, die auf eine schier endlose Odyssee durch Hotels geschickt wurden – ohne Aussicht, jemals anzukommen. So ist es zu erklären, das viele der Menschen, die Journalisten vor Tagen noch bereitwillig in den Block sprachen, heute lieber schweigen.

Der Mann, der vorhin in den Baucontainer geschaut hat, kommt aus dem Haus, am Stock, schleicht zu einem klapprigen Audi. „Ich wohne nicht mehr hier“, sagt er, als er gefragt wird. Dann wird er bestimmter: „Von der Zeitung sind Sie? Ich sach überhaupt nix mehr – mir steht‘s bis hier!“, herrscht er, während er mit den Fingern seine Kehle schneidet. Die älteren Menschen ringsum hüllen sich in die für Siegerländer typische Ruhe. Getreu dem Motto: Was soll uns noch schocken, wenn wir den Krieg erlebt haben?

Eines nur kann Gertrud Becker, die auf der sicheren Seite der Straße wohnt, nicht verstehen: Warum dort, wo jetzt die Erde gähnt, überhaupt gebaut wurde? Ihr Vater, erzählt die 79-Jährige mit Blick auf die Häuser, habe schon damals gefragt: „Wie könnt ihr da nur bauen – da ist doch alles hohl!“ So hohl wie vielerorts in der Region. Auch Tagesbrüche sind hier keine Seltenheit. Vor drei Jahren versank eine Nonne vor den Toren der Stadt im Boden, als sie durch den Klostergarten spazierte. Sie konnte gerade noch gerettet werden.

Sieht man über die Grenzen der Stadt hinweg, ins Sauerland, ins Ruhrgebiet: Überall hat der Bergbau seine Spuren hinterlassen. Über 100 Folgeschäden treten jährlich in Nordrhein-Westfalen auf. Meistens unscheinbar klein, manchmal aber auch so gravierend wie in Siegen oder damals in Wattenscheid, als ein Krater eine Garage verschlang und etlichen Menschen ihr Obdach raubte. Der damalige Ministerpräsident Wolfgang Clement zettelte daraufhin ein Bohrprogramm an, um weiteren Personenschäden vorzubeugen. 23 der dafür vorgesehenen 37,5 Millionen Euro wurden bis heute in Probebohrungen gesteckt, hauptsächlich im südlichen Ruhrgebiet und „jetzt auch im Siegerland“, sagt der Sprecher des Ministeriums für Verkehr, Energie und Landschaftsbau, Lothar Wittenberg. Die Arbeiten am Loch in Siegen kosten laut Vierhaus voraussichtlich 1,5 Millionen Euro. Wie lange genau noch gebohrt wird, wann und ob die restlichen Menschen wieder heimkehren können – das hingegen steht in den Sternen. „Der Mai ist noch ausgebucht“, sagt Vierhaus. So lange wird weiter gebohrt und, wenn nötig, verfüllt. Ganz sicher ist nur eines: Die Wenigsten wollen zurück in Häuser, die im nächsten Moment versinken könnten.