BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER
Meine Zimmerpflanze

Leerstelle (4): Ein Baum im Hinterhof. Im Frühjahr bringt er es auf gut zwei Dutzend Blätter, die er selten bis zum Spätsommer behält. Und doch hinterlässt er seine Spuren

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens. Das sind abseitige Orte in Berlin, an die man im Alltag nicht oder selten hinguckt.

Dass mein Freund der Baum sein kann, ist, über den gleichnamigen Schlager hinaus, Gemeinplatz unter Städtebewohnern. Irgendeine den Baum symbolisch verkörpernde Pflanze hat jeder im Haus. Meist im Topf, gegen jahreszeitlich bedingten Blätterverlust resistent. Die Zimmerpflanze gehört zum Bewohner wie der unsichtbare Affenschwanz zum Homo sapiens. Aus der unbehausten Tierwelt kommen wir, das ist Heimat, die verleugnen wir, mit Gummibaum am Fenster und Meerschweinchen im Terrarium, nicht. Der Baum am Bürgersteig, der Baum im Park ist weniger symbolbeladen, dafür aber anonym, vom Baum im Wald nicht zu reden. Einer im Hof ist schon besser. Mein Freund ist der kleine blattlose auf einem zum Parkplatz umfunktionierten Hinterhof hinter der Torstraße, Mitte. Im Frühjahr bringt er es auf gut zwei Dutzend Blätter, die er jedoch selten bis zum Spätsommer behält.

Warum, ist hier deutlich zu erkennen. Schon mal einen Scheibenwischer über stark verdreckte Scheiben wischen sehen? Selbiges Phänomen haben wir hier. Der Kleine ist heftiger Schwankung, respektive Wischbewegung unterworfen. Nun raten Sie, wie und wodurch! Es ist nicht Menschenlaune, die ihn niederdrückt und hochschnellen lässt, kein Automobilist, der seine Scheiben damit putzt oder die Kotflügel poliert, kein Maulwurf, der ihn unten schüttelt, kein Sperling, der drauf wippt. Es ist der Wind.

Wiewohl der Kleine mit dem Rücken zur Brandmauer wurzelt, bildet sich zwischen Anfang Mai und Ende Juni dank der Blätter genügend Luftwiderstand, und dann das: ein Abbild im Putz, den berühmten Kreisen („signs“) im Kornfeld ganz ähnlich. Überflüssig zu sagen, dass man zuhören kann, wie es raschelt und scharrt, bis es wehtut, zusehen, wie die zarten Blättchen von Beginn mit Chlorophyll den Mauerbewurf tränken. Und Jahr für Jahr wächst er weiter, zu seinem Schaden und zum Besten der Wand. Dass er sich durchreiben wird, steht aber nicht zu befürchten. Sein Wedelbereich umfasst unzerstörtes Gemäuer.

Dass die Rückwand stärkerer Belastung ausgesetzt ist, sieht man gleich: Risse, wohin das Auge blickt, sogar im Fundament, in dem Voreilige schon Bohrlöcher eingebracht haben. Den Betonplatten auf der Erde geht es nicht besser, schief und zersprungen überall. Was die handgemalte 3 (links vorne unten) zu bedeuten hat, muss offen bleiben. Vielleicht Bestandteil einer Autonummer, mit der ein Dauerparkplatz reserviert werden sollte; vielleicht Hinweis auf zwei weitere, längst entwurzelte Bäumchen. Spuren und Spuren verwischen. Letzteres – in Zeiten der Rezession nach Brecht erste Verhaltensmaßregel für minderbemittelte Städtebewohner – wird hier deutlich missachtet.

Was kümmert es ihn, den kleinen Baum, wo er doch für Hoffnung steht, in seiner Spalte, aus welcher er gegen allen Widerstand sprießt. Also soll ein Loblied auf die Breschenspringer angestimmt werden, auf die schnell wachsenden vor allen anderen: Birke, Pappel, Esche, Götterbaum. An all die Trümmergewächse, die aus zerschossenen Giebeln, Kellerspalten, Gullydeckeln und Investruinen keimend, zu Ölzweiglieferanten des Nachkriegs wurden, soll hier mit Dank erinnert sein.

Und nun raten Sie, welcher Art das hier ist! Kaum zu glauben, Pflaume! THOMAS MARTIN