: Der kranke Mann am Hudson
Mit seinem neuen Film „25 Stunden“ eilt Spike Lee seiner Zeit voraus. Doch diese Perspektive bietet weder Aufbruchstimmung noch gute Laune – im Gegenteil, Lees Helden sehen reichlich alt aus
von DOROTHEE WENNER
In dem legendären Buch „Wie haben Sie das gemacht, Mr. Hitchcock?“ kommen der französische Regisseur François Truffaut und der englische Altmeister irgendwann auf die Bedeutung des Drehorts zu sprechen. „Einer der interessantesten Aspekte des Films ist, dass er in der Schweiz spielt“, so Hitchcock über „The Secret Agent“. „Ich habe mich gefragt: Was gibt es in der Schweiz? Milchschokolade, die Alpen, Volkstänze und Seen. […] Man muss versuchen, alle diese lokalen Gegebenheiten in das Drama einzubauen. Die Seen müssen da sein, damit die Leute darin ertränkt werden, und die Alpen, damit sie in Schluchten stürzen.“
Spike Lee hat dieses Prinzip in seinem neuen Film beherzigt: „25 Stunden“ ist ein New-York-Film mit mehr Lokalkolorit, als Würze im Maggiwürfel steckt. Die Stadt und ihr multikulturelles Wesen sind das Thema, das vor den Fassaden von Soho-Lofts, an der Uferpromenade des Hudson und mit Blick auf die Ground-Zero-Krater neu verhandelt wird. Neu im Sinne der neuen Zeit, aber auch im Vergleich zu älteren Filmen von Spike Lee.
Es geht um den coolen Dealer Monty Brogan (Edward Norton), dessen Bargeld- und Drogendepots zu Beginn des Films vom DEA in seinem Designersofa entdeckt werden. Genau 25 Stunden bleiben ihm, bevor er seine siebenjährige Haftstrafe antreten muss. Es sei denn, er flieht oder er bringt sich um. Den Countdown bis zum nächsten Morgen nutzt Monty, um herauszufinden, wer ihn verraten hat. Doch diese Suche schützt ihn nicht davor, unter größtem Zeitdruck abrechnen zu müssen – mit sich und seinem Dealerdasein. Vater, Freundin, Freunde und „Geschäftsfreunde“ wollen oder müssen noch ein letztes Mal aufgesucht werden, bevor Monty von der New Yorker Bildfläche verschwindet. Diese Geschichte ermöglicht es Spike Lee, durch eine Vielzahl ethnischer Szenerien zu galoppieren: die irische Kneipe, die erotisch aufgeheizten Puerto-Rico-Hang-outs, die hektischen WASP-Büros an der Wallstreet, die Hinterzimmer der russischen Drogenmafia.
Ergänzt wird das multikulturelle Spektrum durch eine merkwürdige Komplettabrechnung mit etlichen anderen Ethnien. Es ist eine Schlüsselszene, wenn Monty, der Gescheiterte, allein vor einem traurigen Badezimmerspiegel steht und imaginäre koreanische Obstverkäufer, pakistanische Taxifahrer, chinesische Restaurantbesitzer, Baseball spielende Schwarze beschimpft. In seiner Wahrnehmung sind diese Leute nicht etwa die Menschen, die aus New York den aufregenden, vielgepriesenen „Schmelztiegel“ machen, sondern grinsende Beweise all der Klischees, die in seinem nicht mehr ganz jungen Kopf aus prä-pc-Zeiten kleben geblieben sind. Da gibt es keine multikulturelle Neugierde mehr, nicht mal auf der untersten Konsumentenebene. Aber das Schlimmste für Monty ist am Ende dieses misanthropischen Anfalls die Erkenntnis, dass er selbst – goodlookin’ white guy – genau dem Stereotyp entspricht, das man von Typen hat, die schon in der Schule Gras verkauft haben. Für ihn ist die Karre ganz schön festgefahren. Die Notsituation offenbart ihm, dass auch er nie aus seiner ethnische Enklave herauskommt, obwohl er sich schon weit entfernt in Sicherheit wähnte.
So richtig spannend ist die Geschichte nicht, eher im Gegenteil. Nur langsam kommt der Film in Schwung, weil man zunächst denkt, Spike Lee habe vergeblich versucht, eine Art Scorsese-Mafia-Film zu drehen. Vielleicht fängt man sogar schon an, sich darüber zu ärgern, wie penetrant die Brüste von Rosario Dawson als Augenschmaus inszeniert werden, sodass man ihren Filmnamen „Naturelle“ nur noch als Hohn empfindet.
Doch irgendwann kippt das Spiel um – und man ahnt, dass es in diesem Film doch wieder um das Thema gehen wird, das Spike Lee seit seinem erstem Film „She's gotta have it“ beschäftigt. Damals, 1986, gründete sich der Erfolg des Regisseurs darauf, dass er mit dem Film ein bisschen seiner Zeit vorausgeeilt war. Die Hauptdarstellerin verkörperte eine selbstbewusste, witzige, schwarze Frau, die als gesellschaftlicher Phänotyp eigentlich erst viel später wahrgenommen und akzeptiert wurde. Genau das machte „She's gotta have“ so mitreißend, denn der Film schaffte durch das progressive Frauenbild selbst eine Aufbruchstimmung zu kreieren, die auch außerhalb des Kinos wirkte. In „25 Stunden“ passiert etwas Ähnliches – allerdings in entgegengesetzter Richtung. Denn dieser Film erzählt nicht allein vom Scheitern eines Dealers, sondern davon, dass die Erfolgsmodelle der weißen Mittelklassemänner untauglich geworden sind. Monty, die Hauptfigur, wird in dieser Hinsicht flankiert von zwei gleichaltrigen Freunden, besten Kumpels noch aus Schulzeiten. Der eine – Barry Pepper – ist ein wohlstandsverwahrloster Broker, bei dem die monetäre Fassade ein völlig asoziales Wesen versteckt. Der andere – brillant gespielt von Philipp Seymour Hoffman – gibt als aufgesexter Highschoollehrer höchstens noch ein negatives role model für Jugendliche ab, die zu erziehen seine Aufgabe wäre. Als Triptychon vermitteln die drei Männer alles andere als Aufbruch und gute Laune, denn man ahnt, dass der Film viel mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Spike Lee beobachtet seine Umgebung sehr genau. Ihm gelingt es immer wieder, über Einzelschicksale ganze Szenen, Stadtteile oder auch Schichten zu porträtieren. Und er umgibt sich mit Leuten, die als Drehbuchautoren, Schauspieler, Kostümbildner und Ausstatter viel Gespür für gesellschaftlich relevante Details haben. Auch in „25 Stunden“ scheinen die Sprüche der Darsteller, ihre Kostüme und Tattoos, aber auch die Inneneinrichtungen von Discos und Büros quasi dokumentarisch. Tatsächlich aber sind sie so pointiert in Szene gesetzt, dass der ganze Film unmerklich auf die Zukunft spekuliert, auf das, was nun kommen und aus diesen Leuten werden wird. Das ist im New Yorker Kontext heute verglichen mit den späten 80er Jahren wesentlich weniger erfreulich. Man geht nach diesem Film aus dem Kino und denkt über den kranken Mann am Hudson nach. Spike Lee hat ihn äußerst intelligent porträtiert, aber es braucht einen Moment, bis man dieses mutige filmische Unterfangen würdigen kann, denn es stehen wahrlich keine positiven Identifikationsfiguren zur Verfügung.
„25 Stunden“. Regie: Spike Lee. Mit Edward Norton, Rosario Dawson u. a. USA 2002, 135 Min.
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