hört, hört !: Ansteckend: Wahnsinn im Radio
Akustischer Jasmin auf Nordwest
„Jemand durchquert mich auf seiner Reise in mir. Der Mann im Jasmin. Ich bin seine Wohnung.“ Eine faszinierend wirre, schwirrend schwebende Kompilation von phantasierenden Gedankensprüngen, irren Ideen und autobiografischen Fakten hat Regisseurin Christiane Ohaus aus Texten von Unica Zürn gewonnen. „Spiele zu zweit, letztes Spiel“ heißt das Hörstück nach deren Buch „Der Mann im Jasmin – Eindrücke aus einer Geisteskrankheit“: Die Ursendung ist heute um 22 Uhr auf Nordwestradio.
Zürn war hin- und hergerissen zwischen dem Versuch, das Leben trotz und mit ihrer von Zeit zu Zeit ausbrechenden Schizophrenie zu genießen, und dem Bemühen, sich ihre Situation bewusst zu machen. Sie hat das in phantasievollen Sprachgemälden, oft auch in kühl distanziertem Beobachterton aufgeschrieben. 1916 in Berlin geboren, begann sie nach Studium, Heirat und Scheidung Kurzgeschichten zu schreiben und als Dramaturgin zu arbeiten. Seit den 50er Jahren lebte sie in Paris, zum engsten Freundeskreis gehörten die Surrealisten Breton, Arp, Duchamps, Ray und Ernst. 1970 setzte sie ihrem Leben durch einen Sprung aus dem Fenster ihrer Pariser Wohnung ein Ende.
Ohaus und ihre Sprecherin Michaela Caspar zerren den Hörer ständig auf den Boden der Tatsachen, starten ihr Hörkunststück immer wieder neu, mit trocken berichteten biografischen Stationen ihrer Protagonistin – um sie dann in Gedanken und Sphären zu entlassen, in denen sie in rasender Phantasie aus Naturtönen, heranschwebenden Formen und Gedanken immer neue Sprachbilder spinnt: Ein schier „unerschöpfliches Vergnügen: das Suchen nach einem Satz in einem anderen Satz“, findet Zürn.
Das Material entstammt ihrer Phantasie, ihrer Krankheit. Vielleicht ist aber auch im Bett ein Mikrofon eingebaut, das die Töne erzeugt, die dann Worte bilden und Formen heranschweben lassen, denen man so lange lauschen muss, bis – nachts – alles seinen wunderschönen Sinn hat: „Die schönsten Gedanken beginnen zu blühen – wie der Jasmin.“ Es könnte vielleicht sehr schön sein, verrückt zu sein. Und irgendwann konstatiert die Protagonistin schrecklich-schön: „Nach 43 Jahren ist mein Leben noch nicht mein Leben geworden.“
„Spiele zu zweit, letztes Spiel“ gibt den Zuständen und Worten, der Angst und der Kunst Unica Zürns Klänge und Raum – und dem Hörer das verstörende, spannende Gefühl, dass die Sprache ein unzureichendes Medium sein könnte. Man will mehr wissen von dieser Person. Denn diese „Eindrücke aus einer Geisteskrankheit“ sind unvollendet, offen. Für Fortsetzungen, nachts, träumend, im Jasmin vielleicht. Die Krisen von Unica Zürn begannen immer im Sommer.Carsten Werner
Ursendung: Heute, 22 Uhr, Nordwestradio
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen