Verlockend und unbezahlbar

aus Bratislava und KošiceASTRID GEISLER

Auf der Fahrt nach Osten meint man, die Zeit spule zurück, weiter und weiter mit jedem Kilometer. Sechs Stunden braucht der Zug fort aus Bratislava, dorthin, wo Katka Hlaváčková lebt, ans Ende der Slowakei, ans Ende des „neuen“ Europa. Vorbei an den Hügeln der Kleinen Karpaten, vorbei an den Kalkfelsen der Kleinen Fatra, vorbei an Nestern, die sich mit vergilbten Trabantensiedlungen ankünden und verabschieden mit vergessenen Fabriken und kalten Schloten, vorbei am verschneiten Massiv der Hohen Tatra, an Seen, Wäldern, vorbei an Ebenen, wo sich Bauern mit Hacken auf ihren Feldern bücken.

Die Bahn ist fast leer, als sie ein letztes Mal hält: Košice, 236.000 Einwohner, zweitgrößte Stadt der Slowakei, Endstation. Keine Autobahn führt aus dem Westen hierher und aus dem Osten erst recht nicht – dort beginnt die Ukraine.

Bratislava, das ist Westen

„Bratislava“, sagen Katkas Freunde, wenn sie zusammensitzen im dunklen Kaffeehaus, „Bratislava ist doch längst in der EU.“ Es klingt bitter. Ihre Hauptstadt, noch 300 Kilometer südöstlich von Prag, liegt von hier aus gesehen schon weit im reichen Westen. Was aber wird aus ihnen, dem Rest im Osten, packt der es auch, wenn die neue Zeit im großen Europa beginnt?

Katka, 20 Jahre, studiert Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität, einem grauen Monumentalbau, der ahnen lässt, was der sozialistische Plan einmal Wichtiges vorhatte mit dieser Region. Katka kennt diese Zeit nicht mehr. Sie war sechs, als sich die ČSSR verabschiedete vom großen Bruder in Moskau, und an ihrem zehnten Geburtstag war auch die Tschechisch-Slowakische Republik Geschichte.

Ihre Generation hat immer nur nach Westen geblickt, und man muss Katka eigentlich nicht fragen, ob sie für den EU-Beitritt stimmen will beim Referendum am Wochenende: „Klar!“ Gut 70 Prozent der Slowaken sind, Meinungsforschern zufolge, für diesen Weg. Junge EU-Gegner muss man lange suchen. Aber wenn Katka ihr Ja zur EU erklären soll, zählt sie erst mal Bedenken auf.

Was ist das eigentlich, die EU?

Katka fühlt sich wie jemand, der ein Haus kauft, doch den Preis nicht kennt und auch die Räume nur aus dem Prospekt. Sie spricht Deutsch fast fehlerfrei. Bis nach Deutschland hat sie es bisher nicht geschafft: „Die meisten hier erwarten etwas Riesiges von der EU“, sagt Katka, „aber frag nicht, was genau und wie es funktionieren soll! Das kann dir hier keiner sagen.“ Hier, sagt Katka, hier im Osten. Gewiss, meint sie, sei es leichter optimistisch zu sein für junge Leute in Bratislava, im reicheren Westen.

Es gibt einen einfachen Weg, das zu verstehen. Er führt heraus aus dem Café ein paar hundert Meter die beste Einkaufsstraße Košices hinunter. Blau-gelbe Fähnchen sind zwischen den Geschäftshäusern gespannt, nicht wegen des Referendums, sondern für ein Stadtfest, das bevorsteht. Katka geht oft an den Schaufenstern vorbei: Nokia-Handys, Vichy-Antifaltencreme, Adidas-Turnschuhe mit dem neusten Schnickschnack, natürlich gibt es längst alles hier – und irgendwie doch nicht. Denn als Studentin bekommt Katka 35 Kronen die Stunde, wenn sie im Supermarkt an der Kasse jobbt. Das sind rund 85 Cent. 3.299 Kronen, gut 80 Euro kosten die Turnschuhe von Adidas bei Intersport nebenan. Genauso, fürchten sie, könnte es in der EU werden: Für alle verlockend, für die meisten unbezahlbar.

Dabei steht Katka eigentlich ziemlich gut da, selbst wenn das Geld für ein Studium in Bratislava nicht reicht und auch nicht für eine eigene Wohnung. Die Eltern haben Arbeit, noch, sagt Katka, der Vater als Ingenieur beim privatisierten Elektrizitätswerk, die Mutter bei den Wasserbetrieben. Sie verdienen zusammen knapp 490 Euro im Monat, brutto – eine ganze Menge hier. Den Preis dafür beschreibt die Tochter so: Der Vater sitze jeden Tag zwölf Stunden in der Firma, arbeite am Wochenende daheim weiter, habe seit drei Jahren keinen Urlaub bekommen. „Aber die Leute machen alles mit, auch wenn es sich eigentlich nicht lohnt, sie haben ja keine Wahl.“

Denn fast jeder Dritte in dieser östlichsten Region der Slowakei hat keine Arbeit mehr, in vielen Ortschaften kurz vor der Grenze sind es von 100 Einwohnern 60 oder noch mehr. Kein Vergleich mit Bratislava, wo die Statistik kaum fünf Prozent Arbeitslose zählt. Im Osten aber sind nur die Löhne wirklich niedrig. Ganze Jahrgänge von Uni-Absolventen ziehen für immer fort aus Košice, dorthin, wo Akademiker gesucht sind und es besseres Geld gibt, nach Bratislava, nach Prag, nach Großbritannien oder gleich in die USA.

„Die Zukunft liegt in unserer Hand“, steht seit ein paar Wochen auf blau-gelben Plakatwänden, dort, wo die kleine Altstadt von Košice in große Trabantenbezirke übergeht. Es ist ein Slogan der offiziellen EU-Beitrittskampagne, finanziert von der slowakischen Regierung. Er soll die Bürger für das Referendum begeistern, damit es nicht scheitert an einer Wahlbeteiligung unter 50 Prozent. Nichtssagend findet Katka die Werbung: „Viele fragen sich: Warum gibt der Staat so viel für das Referendum aus? Fehlt es nicht überall an Geld?“

Die Milka-Kuh ist auch schon da

Nein, nicht überall. Zuzana Muckova, 24 Jahre, Jeans, strubbeliger Kurzhaarschnitt, sitzt in einem himmelblauen Neubau am Rande Bratislavas und stellt sich als Managerin vor, Werbeagentur Creo Young & Rubicam, Abteilung Kundenkontakt, mitverantwortlich für den jüngsten Prestigeauftrag des Unternehmens: die Kampagne der Regierung für den EU-Beitritt. „Hast du die Plakate auf dem Flur gesehen?“ Das alles haben sie hier schon geschafft: die Milka-Kuh in die Hohe Tatra gebracht, Danone-Joghurts auf den slowakischen Frühstückstisch, das Sparkassen-S in die Köpfe der jungen Nation. „Ich persönlich“, sagt Zuzana, „sehe auch das EU-Projekt total optimistisch.“

Und wenn sie dann von ihrem „großartigen“ Job und ihrem Leben in der „kosmopolitischen“ Hauptstadt berichtet, fragt man sich: Warum wirbt die Slowakei mit großen Händen und gelben Sternchen für die EU? Es gibt doch Leute wie Zuzana hier. Logisch, vielleicht sogar überfällig erscheint Zuzana der „letzte, kleine Schritt“ in die EU. Persönliche Konsequenzen? „Keine dramatischen.“ Zuzana verdient gut, wie gut, das behält sie für sich: „Ich bin glücklich und muss nicht rechnen.“ Es klingt mehr cool als bescheiden. Sie teilt mit dem Freund eine eigene Wohnung, ist herumgekommen in Europa – „nur Großbritannien fehlt noch“ – und findet das Leben in Bratislava trotzdem am schönsten. Spricht Zuzana über die wirtschaftliche Lage ihres Landes, klingt es, als sei dieses leidige Thema längst abgehakt: Natürlich, die Slowakei hänge „zehn oder zwanzig Jahre“ hinter den reichen Ländern Europas, und, klar, der Weg zum EU-Niveau werde sicher lang. Zu fürchten scheint Zuzana diesen Marathon nicht. Und wie sie so dasitzt zwischen Flipcharts und Multimediaanlagen in ihrem kindergartenbunten Büro und die Zukunft entwirft, da möchte man fragen: Zehn Jahre, zwanzig Jahre – was soll's, ist es nicht jetzt schon nett hier?

Zehn Jahre, zwanzig Jahre – für Katka Hlaváčková dürfte es bis dahin unerträglich geworden sein in Košice: „Hier sitzen und nichts tun“, sagt sie, „das kann ich mir nicht vorstellen.“ Aufbrechen wird Katka, wenn sich keine Jobs für Uni-Absolventen auftun, nach Westen ziehen, vermutlich besser verdienen als ihre Eltern.

Das Geld für die Fahrkarte

Die wenigsten in der Ostslowakei aber werden diesen Weg mitgehen. Denn Abhauen, das ist die triste Hoffnung der Stärkeren. Die weniger Starken sitzen ein paar Schritte von der Fußgängerzone Košices entfernt im „Sozialzentrum“ der Caritas, einem Kellerloch mit Betonfußboden und vergitterten Lichtschächten, wo es nach Armut riecht und nicht mehr gehofft wird, sondern gewartet: auf ein warmes Essen zum Beispiel.

Manch einer hier ist noch jung, so wie der Mann, der sich Peter nennt, nichts weiter. Kfz-Mechaniker hat er gelernt, aber die sucht hier keiner. Peter fragt, warum die Regierung sich nicht erst um Arbeitsplätze kümmere und dann um diesen EU-Beitritt. Denn, was solle er sich selbst als EU-Bürger erwarten: Im reichen Ausland zu arbeiten? „Die Frage ist doch“, sagt Peter, „ob das Geld für eine Fahrkarte dorthin reicht.“ Da nickt die Sozialarbeiterin von der Caritas. Sogar sie fährt nur noch selten zu den Verwandten in der Westslowakei, so teuer sind die Tickets schon jetzt.