Hans Eichel unterschätzt

Bundesfinanzminister bleibt trotz schlechter Prognosen optimistisch. Wirtschaftswachstum ist rückläufig, mehr als 126 Milliarden Euro Steuerausfälle in den kommenden drei Jahren erwartet

BERLIN taz ■ Der Staat muss bis 2006 mit Steuerausfällen von mehr als 126 Milliarden Euro rechnen. Dies ist die Prognose des Arbeitskreises Steuerschätzung, die gestern in Berlin vorgestellt wurde. Die Zahlen entsprächen „einem halben Bundeshaushalt, der Deutschland in den nächsten Jahren verloren geht“, sagte Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD). „So etwas hat es bisher noch nicht gegeben.“

Dem Bund fehlen demnach 51,5 Milliarden Euro, den Ländern 55,1 Milliarden und den Kommunen 18,9 Milliarden Euro. Die übrigen 2,3 Milliarden Euro fallen in den Bereich der Europäischen Union. Allein in diesem Jahr weist der Haushalt laut Schätzung ein Minus von 8,7 Milliarden Euro auf, verglichen mit der letzten Schätzung vom vergangenen November.

Experten gehen allerdings von noch viel größeren Haushaltslöchern aus. Denn die amtlichen Schätzer basieren auf der amtlichen Wachstumsprognose – und die beziffert Eichel immer noch mit 0,75 Prozent für dieses Jahr, obwohl Wirtschaftsinstitute im In- und Ausland diese Zahl für unrealistisch hoch halten. Obendrein teilte das Statistische Bundesamt gestern mit, die gesamtwirtschaftliche Leistung der Bundesrepublik sei in den ersten drei Monaten des Jahres um 0,2 Prozent geschrumpft, vergleiche man sie mit den letzten drei Monaten von 2002.

Angesichts der verheerenden Steuerschätzung forderte der Finanzminister einen „nationalen Kraftakt“ von Bund, Ländern und Kommunen. Die Bundesrepublik könne sich nicht länger vor Strukturreformen mit schmerzhaften Einschnitten – auch im sozialen Netz – drücken. „Die vollständige Umsetzung der Agenda 2010 ist völlig alternativlos“, sagte Eichel und kündigte zugleich eine drastische Verschärfung des Sparkurses an. Sämtliche Subventionen gehörten jetzt auf den Prüfstand.

Diese Forderung war gestern auch aus den Reihen der Opposition zu hören. Der stellvertretende CDU-Fraktionschef Friedrich Merz sprach unter anderem die Steinkohlesubventionen an. Merz warnte, die Bürger müssten mit tiefen Einschnitten rechnen. Die Steuerschätzung nannte er „ein Desaster“, die rot-grüne Politik „verfehlt“ und Eichels Sparversprechen „Populismus“. FDP-Chef Guido Westerwelle forderte Neuwahlen. Sie wären „das beste Programm für einen Aufschwung“.

Unterdessen kursieren in Berlin Gerüchte, dass die Vorsitzende des Finanzausschusses des Bundestags, Christine Scheel, die Nachfolgerin von Herrn Eichel werden könnte. Die Grünen-Politikerin sagte allerdings in einem Interview, sie habe dieses Gerücht „mit Schrecken vernommen“. Das Finanzressort sollte immer in den Händen des stärkeren Koalitionspartners bleiben. KATHARINA KOUFEN

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