Allein auf dem Adlerweg

Zu Fuß durch Europas unbekanntestes Hochgebirge: Die Hohe Tratra zwischen Polen und der Slowakei ist ein Traum für Wanderer – wenn sie das umtriebige Zakapone hinter sich gelassen haben

Die Hohe Tatra – ein Rückzugsgebiet für Gastfreundschaft ist sie geblieben

von PETER AHRENS

Wer die Polen kennen lernen möchte, sollte im Sommer nach Zakopane fahren. Dort lernt er dann alle auf einen Schlag kennen. Zakopane, an sich der definitive Wintersportort Polens mit den Großschanzen für die Skispringer, gehört auch im Sommer zu den Hauptreisezielen polnischer UrlauberInnen. Die Fußgängerzone des Ortes, die Krupowki, ist in den Wochen von Juli bis August so voll, dass man sich nicht vorstellen kann, dass auf den Champs Elysees oder auf der Friedrichstraße in Berlin zur selben Zeit mehr los sein soll. Discos, Shopping und überall die Verkaufshüttchen, in denen kleine Mütterchen vom Lande ihren Schafskäse verkaufen oder die einheimischen Goralen in ihrer Tracht und den typischen Deckelhüten geschnitztes Kunsthandwerk oder Schachspiele unters Touristenvolk zu bringen suchen.

Zakopane ist Vergnügungsmeile, gleichzeitig aber auch Ausgangspunkt für die Wanderungen in den polnischen Teil der Hohen Tatra. Und daher ist derjenige, der glaubt, durch Flucht in die Berge die totale Einsamkeit zu finden, im Hochsommer sicherlich auch im Irrtum.

Hoch türmt sich das Gebirge hinter Zakopane auf, fast unvermittelt nach den eher sanften Hügeln des südpolnischen Vorlandes, der so genannten Podhale. Wenn man eben noch durch die Straßen Zakopanes gelaufen ist, sich die merkwürdigen spitzgiebeligen Holzhäuser angeschaut hat, die hier einen ganz eigenen architektonischen Stil begründet haben, geht es schon ein paar Kilometer weiter in den Berg hinein. Zunächst langsam, noch ohne große Anstrengung und vor allem am Wochenende begleitet von einer Prozession aus Familien, Pferdekutschen und Rucksackwanderern – alle mit dem einen Ziel: Die erste Hütte zu erreichen, um dort in Ruhe ein pivo, ein polnisches Bier zu trinken und sich dann wieder auf den Heimweg zu machen. Abends bleiben nur wenige in der Hütte zurück: Das ist der harte Kern der Tatra-Wanderer.

Es geht in die Höhe auf bis zu 2499 Meter. So hoch ist der Rysy, die höchste Erhebung der polnischen Tatra und gleichzeitig Grenzgipfel zwischen Polen und der Slowakei. Der größte Teil des Tatra-Gebirges befindet sich ohnehin auf slowakischem Gebiet mit Gipfeln wie dem Gerlach (2655 Meter) oder der Lomnica (2632 Meter). Trotzdem gilt die polnische Seite als die bekanntere und auch als diejenige, die attraktiver zu erwandern ist. Was unter anderem an dem so genannten Adlerweg liegt, ein markierter und anspruchsvoller Höhenweg, der über mehrere Tage von Gipfel zu Gipfel führt.

Doch vor den Gipfelsturm hat der Herrgott das Anstehen gestellt. Denn wer sich scheut, zu Fuß aus dem Tal langsam zu den Bergen aufzusteigen oder wer den Adlerweg direkt vom ersten Gipfel, dem Kasprowy Wierch, aus zu nehmen gedenkt, der muss warten. Zum Kasprowy Wierch führt seit 1936 eine Seilbahn mit zwei Gondeln, die jeweils höchstens 30 Leute transportieren können. Was sonntags zu stundenlangen Wartezeiten im Talort Kuznice, drei Kilometer von Zakopane gelegen, führt. Warten, das sich allerdings lohnt: Die Seilbahn windet sich direkt durch steilste Schluchten auf ihrer Fahrt über 908 Höhenmeter, meistens verstummt dann das Gespräch in der überfüllten Kabine, wenn die Seile beginnen, knarrende Geräusche zu machen, und jeder hebt im Stillen an, Testamente aufzusetzen. Passiert ist noch nie etwas.

Oben angekommen startet der eigentliche Adlerweg, und nun geht es mindestens fünf Tage von Berghütte zu Berghütte. Die Hohe Tatra kann es an Ausblicken und Wandermöglichkeiten durchaus mit vielen Alpenregionen aufnehmen: Die tiefblauen Seen, vor denen man ganz unvermittelt steht, wenn man um eine Ecke biegt, die Passagen, die nur mit in den Berg eingelassenen Eisenketten zu überwinden sind und die bei Feuchtigkeit ein echtes Abenteuer darstellen, die Hütten, auf denen abends die dampfenden Pierogi, die berühmten polnischen Knödel, auf dem Tisch stehen – und all das für Preise, für die ein Alpenwirt in der Schweiz oder in Frankreich sich nicht einmal im Bett umdrehen würde. Trotzdem ist die Berggegend bis heute ein Refugium der polnischen UrlauberInnen geblieben. Es sind relativ wenige ausländische TouristInnen unterwegs – die Tatra ist immer noch so etwas wie das unbekannte Hochgebirge Europas.

Das wird umso deutlicher, wenn man vom Rysy aus auf die slowakische Seite des Gebirges in Richtung des Wintersportortes Strbske Pleso hinabsteigt. In den Orten – sieht man von Strbske Pleso selbst ab – gibt es noch ganz wenig Tourismus, fürs Westauge öffnet sich zuweilen der Charme des Ostblocks, doch das ist meist nur ein schöneres Wort für Armut. Die Slowakei ist ein armes Land, gerade wenn man es mit Polen vergleicht. Die Übernachtung in der Berghütte kostet drei Euro, man hat das Gefühl, hier an der Hohen Tatra verläuft die neue Wohlstandsgrenze innerhalb Osteuropas.

Mittendrin fließt die Dunajec, Grenzfluss zwischen Polen und Slowakei, eine mehrstündige Floßfahrt auf den (harmlosen) Stromschnellen des Flusses gehört zum festen Inventar jedes Touristenprogrammes. Die Flöße werden von den Goralen gesteuert, den Angehörigen des Bergvolkes der Tatra, und natürlich müssen sie für die UrlauberInnen dafür ihre traditionellen Trachten anziehen, die ihnen dadurch zur Berufskleidung werden. Der Fluss schmiegt sich in Mäandern um die Berge, dreht immer wieder neue Schleifen und Kurven, so dass man ab und an die Orientierung verliert, auf welcher Flussseite jetzt welches Land liegt – was auf den Flößen immer wieder gerne zu kleinen Ratespielchen genutzt wird. Badet der Junge dort gerade auf slowakischer oder auf polnischer Seite? Der Flößer lässt raten, und mindestens die Hälfte der Leute liegt gewöhnlich daneben.

Die Hohe Tatra ist aber vor allem auch ein Rückzugsgebiet für Gastfreundschaft geblieben. Wer nach einem Wandertag abends noch keine Unterkunft gefunden hat und frustriert auf seinem Rucksack an der Straße sitzt, wird auch gern mal von einem vorbeifahrenden Autofahrer in den Wagen geladen und zu sich nach Hause gefahren. Wo dann erst mal der Abendbrottisch vollgepackt und anschließend das Gästezimmer hergerichtet wird. Und überhaupt: Wanderer, die an der Straße den Daumen raushalten, finden nach kurzer Zeit immer eine Mitfahrgelegenheit. Autostopp ist eine Tradition in einer Region, in der viele jahrzehntelang kein eigenes Auto besaßen und auf die wenigen angewiesen waren, die schon motorisiert sind. Da hilft man sich eben.