„Die ganze Härte der Friedfülle“

In Bodhgaya, im indischen Bundesstaat Bihar, wurde Buddha einst unterm Bodi-Baum erleuchtet. In dieses buddhistische Zentrum – Insel der Glückseligen in einem Meer von Armut – kommen Pilger und Touristen, um Friedfertigkeit zu erproben

von MICHAEL MAGERCORD

In Bihar, Indiens ärmstem Bundesstaat, geschah das erste Ereignis der indischen Geschichte, das man recht genau datieren kann: Um 530 v. Chr. ließ sich der 35-jährige Siddharta Gautama auf seiner Wanderschaft im mächtigen Königreich Magadha unter einem großen Bodi-Baum nieder. Zwei Wochen, andere Quellen sagen: 7 mal 7 Tage, blieb er darunter sitzen, bewegte sich nicht, aß nichts. Er meditierte und schließlich … „Alles hat eine Ursache“, weiß Bilip Kumar, „hier herrscht eine friedvolle Atmosphäre, deshalb hat Buddha genau hier meditiert, und deshalb wurde er hier schließlich erleuchtet. Das ist wiederum eine Ursache, denn deshalb ist es in Bodhgaya heutzutage immer noch so friedvoll.“

Bilip Kumar, der die buddhistische Bibliothek von Bodhgaya leitet, verzieht keine Miene. Und hat er nicht Recht? Der träge Fluss, die schattigen Alleen, bunte Tempel: Herrscht in dem 25.000 Einwohner zählenden Ort nicht friedvolle Ruhe? Jedenfalls dann, wenn man den Trubel in dem wichtigsten Zentrum der drittgrößten Weltreligion nicht beachtet. Mit den Zug war ich nach Gaya gefahren, in eine triste Stadt mit einer halben Million Einwohner. Es sind kaum zwanzig Kilometer von Gaya nach Bodhgaya, doch sie führen durch Indiens Armenhaus.

Mitten in Bodhgaya ragt eine reich verzierte Pyramide fünfzig Meter in die Höhe. Sie stammt aus dem 11. Jahrhundert und heißt Tempel des Mahabodhi, was „großer Bodi-Baum“ bedeutet. Der Baum steht dahinter, zumindest ein Ableger davon. Vor 2.000 Jahren, als der ältere Hinduismus fast verdrängt und ganz Indien buddhistisch war, wurde eine Ableger des echten Baums nach Sri Lanka verpflanzt. Als 500 n. Chr. Mönche aus Sri Lanka in Bodhgaya einen ersten Tempel erbauten, brachten sie diesen Ableger mit.

Zu einem Ableger vom Ableger pilgern die Reisegruppen, und auch die kommen meist aus Sri Lanka, dem einzigen Land in Südasien, das buddhistisch geblieben ist, nachdem in Indien Könige und Brahmanen den Hinduismus wiederbelebt hatten. Schwatzend und filmend umrunden Pilger Pyramide und Baum, heften Zettel mit Wünschen an die Balustrade und knipsen sich gegenseitig vor der Stelle, auf der er, der eine, meditiert haben soll, so lange, bis er schließlich …

„Hindus glauben an viele Götter, wir Buddhisten aber glauben nur an das Denken.“ Bilip Kumar, der Tempelbibliothekar, verbringt seinen Tag zwischen Büchern und Schriften, umwoben vom Duft von Räucherstäbchen. „Als Hindu bin ich geboren worden, doch nun glaube ich nur noch an das Wissenschaftliche. Im Hinduismus gibt es Kasten, die Menschen werden unterteilt in jene, die angeblich alles wissen, und solche, die nichts wissen sollen. Unter Buddhisten sind alle gleich, das Karma, die Lehre von Ursache und Wirkung, lässt alle Menschen fortschreiten: Ich lerne, also erziele ich ein Ergebnis.“ Bilip Kumar nimmt einen Plastikbecher zu Hand und sagt: „Hindus behaupten, überall stecke eine göttliche, unveränderliche Seele.“ Dann drückt er zu, der Becher knautscht, und er fragt: „Und wo soll die sein?“

Eine Antwort erwartet er nicht, klar sei es: Es gibt nur den Geist, und der ist meist unruhig. Was tun? „Meditiere. Setz dich ruhig hin, konzentriere dich und erkenne wie einst Buddha die Ursache deiner Unruhe: Es sind bloß deine Gedanken, die dich umhertragen, jede Erinnerung verändert dich. Wenn aber dein Geist nicht mehr beherrscht wird von der unruhigen Außenwelt, hast du es erreicht: das Nirwana, den völligen inneren Frieden“, verheißt Bilip Kumar.

Tibetische Mönche lassen am großen Tempel Bodhgaya– manche lesend und Gebete murmelnd, andere in einem rhythmischen Auf und Ab – das Ringen um innere Ruhe anschaulich werden. Zwischen dem Wäldchen aus Steinsäulen, das den Tempel umgibt, sitzen Meditierende – manche mit geschlossenen Augen starr im Lotossitz, andere lässiger, mit einem Buch auf dem Kopf die gerade Haltung erzwingend.

Und da sitzen auch Menschen aus dem Teil der Welt, den man Westen nennt. Im simplen Schneidersitz. Meditierend? Schwatzend. „Es ist so friedvoll hier“, sagt Caroline. Jeden Tag kommt die junge Engländerin zum Tempel, und natürlich, sie meditiere auch, versuche es jedenfalls. Und morgen, da werde sie sich in ein Meditationszentren am Ortsrand zurückziehen zu einer vierwöchigen Vipassana, vier Wochen Schweigen. Sie frage sich auch, ob sie das durchhalten werde. Was? „Diese ganze …“ – Caroline kichert – „… diese ganze Härte der Friedfülle.“

Maria aus Schweden hat sie schon hinter sich und schweigt am liebsten noch immer. Na ja, anstrengend war’s, den ganzen Tag sitzen, da hat der Rücken geschmerzt. Und natürlich denke man nach. Worüber? Na ja, darüber denke sie selbst immer noch nach. Erik, auch er aus Schweden, wird sich das nicht antun. Aus Angst vor dem vielen Nachdenken. Das tue er sowieso schon zu viel. Lieber lässt er sich von Mönchen die buddhistische Theorie erklären in einem Seminar über den Tod, die Vergänglichkeit und Buddha.

Alle drei wohnen in Klöstern. Überall gibt es buddhistische Klöster. Die Klöster in Bodhgaya sind meist brandneu. Erbaut wurden sie von Mönchen und deren Geldgebern aus den buddhistischen Ländern Asiens: üppig verziert das birmanische Kloster, schlicht jene der himalajischen Länder Buthan, Sikkim und Nepal. Koreaner und Vietnamesen unterhalten einfache Gästehäuser für Pilger, Chinesen aus Taiwan einen großen Tempel, die Tibeter gleich zwei. Sie sind von drei Wohntrakten umgeben. Neben dem Bergort Dharamsala in Nordindien, wo der Dalai Lama residiert, ist Bodhgaya der wichtigste Ort für Exiltibeter. Das weitläufigste Areal haben japanische Buddhisten inne, schlicht der Tempel, sauber das Gästehaus, lebhaft der Kindergarten. Im Büro eine freundliche Japanerin, in der Hand eine Broschüre: ein Bild von japanischen Mönchen, die eine geräumige Krankenstation einweihen, ein Bild von indischen Frauen, die sich mit ihren Kindern in langen Schlangen davor aufreihen, und ein Bild von japanischen Ärzten, die darin Medikamente ausgeben. Prachtvoll das thailändische Wat. Bettler im Spalier davor, dahinter aufgereiht die Unterkünfte und die Küche.

Vor dem großen Tempel ist es verkehrsberuhigt, Bäume in exakten Abständen spenden Schatten. Ein Ort für Luftballonverkäufer, Flaneure und Bettler, selbst ein Straßencafé gibt es, kurz: eine Fußgängerzone. Indiens einzige. Drei junge Tibeter verkaufen Meditationsmatten. Aus Qinghai stammen sie, sind vor drei Jahren nach Indien geflohen. Sie wollten Schulbildung, die sie in China nicht erlangen dürfen. Sie leben in Dharamsala, arbeiten einige Monate im Jahr für den Mattenproduzenten. „Handarbeit“, schwören sie, ich winke ab. „Meditieren Sie denn nicht?“, fragen sie erstaunt. Drei Jungen stehen beieinander, Touristen. Gute Kleidung weist ihre Zugehörigkeit zu Indiens besseren Kreisen aus, der Gebrauch von Englisch ebenso. Wortfetzen vorm Liquor-Shop: „Kommt, das machen wir“, fordert der eine. Darauf der Zweite: „Nein, bedenkt doch, es wird euch nicht wirklich glücklich machen.“ „Reg dich ab und quatsch nich wie ’n Mönch“, stöhnt der Dritte. Also ins Café, wo es anregende Getränke gibt: Lassi, Cola und Tee. Ein Mann betreibt die Teeküche: „In Bodhgaya ist es friedlich, Touristen kommen, es gibt Arbeit, aber wo ich herkomme, nur wenige Kilometer von hier, oje, nichts gibt es da, nicht einmal Schulen für die Kinder.“

Glück nennt es Deepak Kumar, dass Buddha nach Bodhgaya gekommen war. Denn ihm folgen die Buddhisten aus aller Welt, und denen folgt die Armee. „Die Japaner bezahlen in Bodhgaya für alles, fließend Wasser, Bäume, Straßen und die Fußgängerzone, und die Armee sorgt für Ruhe. Aber draußen im Lande, oje. Bihar war immer arm, aber jetzt ist es total arm.“ Zwanzig Jahre Kastenstreit, Bandenkriege und gegenseitige Racheakte haben zu Anarchie geführt. Deepak Kumar ist der Leiter der Hilfsorganisation People First: „Wir unterhalten Schulen in den Dörfern und bringen begabte Kinder in ein Internat nach Bodhgaya, damit wenigstens sie in Ruhe etwas lernen können.“

An der Universität lehrt Rana Pratap, einst Vorsitzender des Verwaltungsrats des Mahabodhi-Tempels. Buddha, sagt er, hat die Antwort auf die Probleme in Bihar. „In der schlimmen Lage wird selbst der beste Mensch verrückt. Woher rührt das Leiden? Von Neid und Habgier, Habende leben auf Kosten der Habenichtse.“ Buddha aber habe gesagt: Lebe nicht ausschweifend, lebe den Mittelweg. Damit hat er nichts Neues verkündet, aber er hat diese Werte gelebt und sie verkörpert. Deshalb solle man ihn verehren, nicht als Gott, sondern als Menschen des Mitfühlens. Doch dieses Mitgefühl komme nicht von allein. Man muss danach im Innern verlangen. Wie? Meditiere, schau in dich hinein, suche nicht die Fehler bei anderen, dann wirst du ein besserer Mensch.

Genau das sei es, sagt Rana Pratap, was Bihar brauchte. „Ich habe mit vielen Mönchen in Bodhgaya gesprochen: Geht in die üblen Orte, predigt den Menschen, lebt die Menschlichkeit vor. Diese Orte sind ganz nah, zehn, zwanzig Kilometer, doch bislang ist keiner der Mönche dorthin gegangen.“ Warum nicht? Ist es etwa schon viel zu friedvoll in Bodhgaya? Rana Pratap holt tief Luft – und nickt.

Und so soll es bleiben. Mit Hilfe japanischer Buddhisten werden Hotels gebaut und Tempel errichtet, Brunnen sollen bald die Fußgängerzone verzieren, und die größte Buddha-Statue der Welt soll hier errichtet werden. Alles wird dafür getan, dass Buddha den Ort nicht mehr verlässt und die Pilger und Touristen kommen.