Der Spielverderber

Die Hauptsache ist es, die Interpretation zu vernichten. Vier neue Bücher widmen sich – teils aus der Innenansicht, teils mit dekonstruktivistischem Blick – der Arbeit und dem Denken Heiner Müllers

VON STEFAN MAHLKE

Auf dem Theater scheint Müller tot. Ulrich Mühes Inszenierung des „Auftrags“ hat uns keines Besseren belehrt.

Doch Müller lebt. Zumindest als Forschungsgegenstand der Theaterwissenschaft. Das zeigen vier Bücher, die zum 75. Geburtstag des 1995 verstorbenen Autors erschienen sind. Die edition suhrkamp versucht mit dem Sammelband „Der Text ist der Coyote“ eine Bestandsaufnahme zur Aktualität des Autors. Theater der Zeit bringt „Kalkfell zwei“ in der Reihe der Arbeitsbücher heraus, mit acht Jahren Abstand zur Trauer, die noch „Kalkfell (eins)“ prägte. Beide Bände sind lesenswert. Doch herausragend sind die zwei anderen Bücher: „Müller macht Theater“ von Stephan Suschke und „Heiner Müller-Handbuch“ von Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi.

Suschke lernte Müller 1987 kennen; seitdem war er immer dabei, wenn Müller inszenierte. Zwei Jahre lang hat er Probenaufzeichnungen gesichtet und Schauspieler, Bühnenbildner und Dramaturgen interviewt, die an den zehn Inszenierungen von 1980 bis 1995 beteiligt waren. Aus dieser Nähe hat er zusammen mit dem Gestalter Grischa Meyer ein Buch gemacht, das Müllers Denken und dessen praktische Umsetzung zu beschreiben versucht. Wo man sonst nur die fertige Aufführung zu sehen bekommt – hier werden Arbeitsprozesse dokumentiert.

Die Enteignung des „Schauspielers von seinem Monopol auf Gefühl und Rollenspiel“, schreibt Primavesi, war eine der großen Anstrengungen des Theatermachers. Er insistierte darauf, die Texte als Fremdkörper zu behandeln, ihre Musikalität zu zeigen. „Die Vernichtung von Interpretation, das war die Hauptarbeit“, notiert der Bühnenbildner Hans-Joachim Schlieker in „Müller macht Theater“.

Der Regisseur Müller kam vom Raum/Bild her. Die Bühnenbildner lieferten ihm Räume, diese gaben den Arrangements Halt. In schauspielpraktischen Fragen erklärte sich Müller nicht ohne Kalkül zum Dilettanten. Die Schauspieler bekamen keine Anweisungen, sondern sollten Vorschläge machen. Unsicherheiten störten die gewohnte Aneignung der Rollen. Nicht immer ging es so leicht wie bei Corinna Harfouch, die in „Macbeth“ (Volksbühne 1982) die Lady Macbeth spielte. Müller habe sie „an die Hand genommen, wenn ich zu Tschechow-mäßig, zu ausufernd psychologisch wurde. Er konnte sehr fein, sehr leise eingreifen, indem er einem einen kleinen Stich versetzte. Er hat einfach die Bindeglieder rausgenommen, die weichen, schleichenden Übergänge.“

Bei Suschke findet man die Krisen dokumentiert, in die die Schauspieler durch die Verweigerung von Psychologisierung kommen; Widerstände gegen den Ansatz, dass der Text niemandem gehören soll. In diesem Sinn war Müller „Spielverderber“ (Martin Wuttke). Wichtig war ihm, die schnelle Fixierung von Bedeutung zu verhindern. Dieser Anspruch galt auch für die eigenen Texte. Auf einer Probe bemerkte Müller zu „Findling“, dem fünften Teil seiner „Wolokolamsker Chaussee“: „Das Problem ist die Assoziation. Das wird sofort zur Assoziation bezüglich der DDR. Das ist so langweilig …“

Im Zentrum des Handbuchs stehen die Texte des Autors. Es liefert neben Werkanalysen Beiträge zu übergreifenden Aspekten sowie zu Zeit und Person. Ein Überblick über die internationale Rezeption und ein Anhang mit einer umfangreichen Bibliografie machen es wirklich zu einem Handbuch. Die fast 100 Beiträge internationaler Autoren fühlen sich vor allem dekonstruktiv inspirierten Forschungsansätzen verpflichtet, die sich auf die Vieldeutigkeiten und Widersprüche der Texte einlassen. Nicht vertreten sei, so die Herausgeber, „jene Richtung, die sich als ideologische Polizei aufgeführt hat“, indem sie in „verheerender Simplifizierung die komplexe Artikulation von Texten umstandslos mit Meinungsäußerungen des Autors zusammenwarf“. Diese Maßnahme zur Qualitätssicherung bekommt dem Band gut, auch wenn gelegentlich zu Müller-nah argumentiert wird.

Mit dem Handbuch und vor allem mit „Müller macht Theater“ gewinnt Heiner Müllers Traum von einem anderen Theater an Kontur. Es ist ein Anspruch, der sein eigenes Werk übersteigt. Seine Aktualität ist angesichts des herrschenden Theaterbetriebs nur zu greifbar.

„Kalkfell zwei“. Theater der Zeit, Berlin 2004, 160 Seiten, 14,50 € Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi (Hrsg.): „Heiner Müller Handbuch“. J. B. Metzler, Stuttgart 2003, 525 Seiten, 49,90 €ĽStephan Suschke: „Müller macht Theater. Zehn Inszenierungen und ein Epilog“. Theater der Zeit, Berlin 2003, 279 Seiten, 34 €ĽChristian Schulte und Brigitte Maria Mayer (Hrsg.): „Der Text ist der Coyote. Heiner Müller. Bestandsaufnahme“. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2004, 308 Seiten, 12 €