Das Casino der Elenden

Das Gewinnspiel Fahfee verspricht in den Townships Südafrikas das ganz große Glück. Fahfee ist das Roulette der Armen. Fahfee macht schön. Fahfee ist Mystizismus, Aberglaube – und Dummenfang. Denn das ganz große Geld machen andere: Chinesen, die das illegale Spiel für Schwarze organisieren

TEXT UND FOTOS ROBIN ALEXANDER

Auf diesem staubigen Hof, wo zwischen Blechdächern und schlecht verputzten Wänden drei Familien hausen, wird sehr schnell sehr viel Geld gemacht. Und zwar um neun Uhr morgens. Denn dieser Hof, der Florence Mpe (24) gehört, verwandelt sich jeden Morgen in „die Bank“. Eine Spielbank. Ein Casino mitten im Elend.

Das Spiel heißt Fahfee (sprich Fafie) oder auch „umChina“ (sprich Mtscheina), denn es wird von Chinesen organisiert. Die Spieler allerdings sind schwarz: Wir sind hier in Meadowlands, Zone 1, in Soweto, Südafrikas berühmtestem und berüchtigstem Township. Zehn Jahre nach dem Ende der Apartheid gibt es in Soweto solide Einfamilienhäuser und sogar Villen, aber in den meisten Gegenden wird, um das Elend zu messen, nicht mehr die Arbeitslosenrate, sondern der Anteil der Aidskranken statistisch erhoben. Auch Florence, die Mutter von zwei Kindern, hat keinen Job. „Gleich kommt er“, flüstert sie, „um Punkt neun. Er ist immer pünktlich.“ Wer kommt? „The Chinaman“. Um zehn vor neun ist noch kein Chinese zu sehen. Dafür ist die komplette Nachbarschaft gekommen – um zu spielen. An Florence’ Küchentisch finden wir eine alte Frau, die doppelte Buchführung betreibt.

Sie verzeichnet jeden Einsatz mit schmierigem Kugelschreiber einmal auf einem kleinen Zettel und einmal in einer großen Liste. Der Chinaman nimmt jede Wette an. Für Freddy Mathela trägt die alte Frau gerade je 3 Rand (40 Eurocent) für die Zahlen 9, 13 und 21 ein. Gewinnt eine dieser Zahlen, bekäme Mathela, der als Wachmann arbeitete, bevor er bei einem Überfall invalide geschossen wurde, 84 Rand heraus. Die monatliche Rente des 59-Jährigen beträgt 700 Rand (80 Euro). Davon ernährt er sechs Familienmitglieder.

Die Einsätze und die getippte Zahl werden in kleinen, runden Geldbörsen verstaut. Fast dreißig dieser abgegriffenen Portemonnaies liegen jetzt auf dem Küchentisch. Man muss nicht anwesend sein, um zu spielen. Bra Happy, ein sehr alter, sehr dünner Mann, legt sechs Börsen auf den Tisch. Der 80-Jährige hat im Morgengrauen die Straßenzüge abgeklappert und Wetten eingeholt. Auch er lebt von Fahfee. „China! China!“ wird von der Straße gerufen. Meint: Rien ne va plus – nichts geht mehr. Die Alte rafft die Börsen zusammen und steckt sie in einen zerschlissenen Stoffbeutel. Den schnappt sich eine jüngere Frau und rennt zur Straße: „Da ist er, maChina, der Chinaman!“

Sehen kann man ihn immer noch nicht. Er kommt in einem Bakkie, einem in Afrika gebräuchlichen Pick-up-Wagen. Die Scheiben sind undurchsichtig schwarz getönt. Nur ganz kurz muss er das fingerdicke, schusssichere Glas herunterkurbeln, als ihm die junge Frau den Stoffbeutel ins Auto reicht. Dann nennt er der Frau, die immer noch neben dem Bakkie steht, eine Zahl. Sie nickt, reckt gurrend den Hals und flattert mit den Händen: Sie spielt ein Huhn. Das ist ein Zeichen für alle Fahfee-Spieler, die hinter Gardinen und Mauern den Vorgang beobachten: Das Huhn steht für die Zahl 30, die gerade gewonnen hat. Florence erklärt: Das Zeichen stehe nicht für die Zahl, sondern die Zahl stehe für das Zeichen. Die Nummer, die maChina zum Gewinnlos erklärt, sei kein Zufall. Fahfee sei kein Glücksspiel wie im echten Casino. Sondern Mystik, die man erahnen kann – im Alltag und in Träumen. Legt ein Huhn zwei Eier, setzt man auf 30. Träumt man von Wellen, wählt man die 3, die für das Meer steht. Jede Zahl hat mindestens eine symbolische Entsprechung. „Heute habe ich auf die 13 gesetzt“, erklärt Florence, „weil ich von einem großen Fisch geträumt habe.“

Keine zwei Minuten sind vergangen, da reicht der Chinese den Beutel wieder heraus. Diejenige Börsen, in denen Zettel mit der richtigen Zahl lagen, sind jetzt prall gefüllt mit gefalteten Geldscheinen und Münzen. Aber die meisten sind leer. Es gewinnt immer nur eine Zahl.

Der Bakkie fährt fort, während auf dem Küchentisch der Gewinn und die leeren Börsen verteilt werden. In der Zulu-Sprache und auf Englisch wird sehr schlüssig begründet, warum heute das Huhn gewinnen musste. Und warum es morgen ganz bestimmt der Dieb (Nummer 7) sein wird. Oder der kleine Junge (Nummer 33). Oder der Penis (Nummer 36). Die einzelnen Symbole sind uneindeutig, aufeinander bezogen und letztlich nicht schlüssig. Sie bieten Gesprächsstoff für einen ganzen Tag. „Das ist das Wichtigste an Fahfee“, sagt Florence, „es hilft gegen die Langeweile. Sonst passiert hier ja nichts.“ Kaum einer geht arbeiten und schon das Taxigeld ins nahe gelegene Johannesburg wäre Luxus. Gestern hat Florence auf die Nummer 1 gesetzt, weil wir unseren Besuch angekündigt haben. Eins steht für König, erzählt sie und erklärt: Ihr seid weiß. Florence hat mit einem Rand Einsatz 28 Rand gewonnen und sich mit dem Geld beim Friseur neue Strähnchen ins Haar flechten lassen. Damit sie auf unseren Fotos gut aussieht.

Fahfee ist ein Arme-Leute-Spiel, aber nicht nur arme Leute spielen. Fahfee ist Mystizismus, Aberglaube und Dummenfang. Und Fahfee ist das ganz große Geld. Florence Hof ist nicht der einzige, an dem der Bakkie vorbeifährt. „Jede Stunde kassiert der Chinaman eine andere Bank ab. Mindestens zehn pro Tag. Und es gibt Dutzende von Bakkies, die täglich durch die Townships kreuzen“, erklärt Jonathan Ancer. Der Journalist der Johannesburger Zeitung The Star kennt die Routen: Er recherchiert seit langem der Fahfee-Organisation hinterher. Heute sind wir gemeinsam unterwegs – und haben Glück: Ein Fotograf vom Star, der sich mit einem riesigen Teleobjektiv auf Florence’ Dach gelegt hat, schafft es tatsächlich, den Chinaman in genau der Sekunde abzuschießen, als er das Fenster herunterkurbelt. Jetzt haben wir ein Foto. Auf dem man allerdings kaum mehr sieht als ein asiatisches Gesicht mit Sonnenbrille. Florence riskiert viel, indem sie uns diese Aktion erlaubt. 5 Rand zahlt ihr der Chinaman pro Woche, weil sie ihr Haus zur Bank macht. 5 Rand sind 60 Eurocent. Viel Geld im Township. So viel kostet eine Mahlzeit mit Fleisch. Wer macht das Geschäft mit den Pfennigen der Ärmsten? Fahfee gibt es in Südafrika schon seit Generationen, aber die Fahrer der Bakkies sprechen so schlecht Englisch, als seien sie neu im Land, berichten die Spieler. Heute kommen wir nicht mehr an die Chinesen heran. Aber der 64-jährige FK Msomi, den wir in einem anderen Teil Sowetos aufstöbern, hat für sie gearbeitet. Anfang der Neunzigerjahre, als mit der Apartheid die alte, eingespielte Unterdrückung bröckelte und die Townships eine Welle unkontrollierter Gewalt erlebten, brauchten die Chinesen den Schutz von Leuten aus der Umgebung. Msomi fuhr im Bakkie mit. Heute noch nennen ihn die Nachbarn „the black Chinese“.

Der schwarze Chinese soll uns berichten, wie viel Geld in den Casinos der Elenden wirklich gemacht wird. Bis zu 5.000 Rand, sagt Msomi, wurde schon damals kassiert – bei jeder einzelnen Bank. Macht ungefähr 50.000 Rand (6.000 Euro) pro Tag und Bakkie. Wie viele Bakkies sind unterwegs? Msomi hat keine Ahnung. Zwei Millionen Menschen leben in Soweto. Und es gibt noch mehr Townships. Niemand im Township weiß, wie die Chinesen bestimmen, welche Zahl an welcher Bank gewinnt. Einige sagen, der älteste Chinese träumt sie. Andere meinen, es gäbe ein weibliches Orakel. Msomi weiß nur, dass die Bakkiefahrer die Zahlen nicht selbst bestimmen, sondern genannt bekommen. Aber von wem, das weiß er auch nicht. Anders als an den Roulettetischen in den glitzernden Casinos der Reichen verdient der Staat beim Roulette der Armen nicht mit. Fahfee ist illegal. Doch die Regierung hat den Kampf gegen das größte Glücksspiel in Südafrika längst aufgegeben. Wenn die Polizei einen Fahfee-Bakkie im Township anhält, dann bekommen die „Cops“ Münzen für Bier und Grillfleisch.

„Natürlich beuten sie uns aus“, sagt uns Florence zum Abschied: „Das wissen wir. Wir sind schließlich keine Idioten.“ Aber ihre Mutter hat Fahfee gespielt wie auch ihre Großmutter schon. Und wenn ihr neunjähriger Sohn Hector oder ihre vierjährige Tochter Kelegite ihr einen Traum erzählen, dürfen sie einen Rand darauf setzten.