Taiwan im Demokratierausch

Bei den Präsidentschaftswahlen am Samstag wählen die Inselbewohner zwischen wirtschaftlichem Pragmatismus und nationaler Identität. Amtsinhaber Chen Shui-bian hat mit neonationalistischer Rhetorik den anfänglichen Rückstand aufgeholt

AUS TAIPEHCHIKAKO YAMAMOTO

So aufregend kann Demokratie sein: Gerade erst demonstrierten über eine Million TaiwanerInnen mit einer 500 Kilometer langen Menschenkette für ihren Präsidenten Chen Shui-bian, da kamen am vergangenen Wochenende noch einmal so viel Menschen zusammen, um mit der oppositionellen Kuomintang (KMT) und ihrem Präsidentschaftskandidaten Lien Chan „Wählt den Präsidenten ab! Rettet Taiwan!“ zu fordern. So gilt das Ergebnis der dritten demokratischen Präsidentschaftswahlen auf Taiwan am Samstag als offen, nachdem die Opposition lange in den Umfragen geführt hatte.

Von Letzterem will Chang Wei-cha nichts wissen. Der Wahlkampfleiter des Präsidenten in der Hauptstadt Taipeh war jahrzehntelang im Pariser Exil, bevor ihm die Demokratisierung der Insel in den 90er-Jahren die Rückkehr erlaubte. Empört reagiert Chang auf die Kritik aus Paris und Washington, Präsident Chen provoziere China im Wahlkampf unnötig, indem er ständig Taiwans Souveränität und nationale Identität betone. „Natürlich entsteht jetzt eine Art Neonationalismus in Taiwan. Aber woher kommt der?“, fragt Chang: „Er ist eine Reaktion auf Chinas Nationalismus.“

Um Chang herum tobt die Kampagne. Chens Demokratische Volkspartei (DPP) hat vor allem unter jungen Leuten Zulauf. Im Wahlkampfbüro läuft Musik und sind ständig Pressekonferenzen. Freiwillige sortieren Fahnen, Spruchbänder, Schirme und Puppen. Über ihnen prangt ein riesiges Plakat des Präsidenten.

Der ist für Stephen S. F. Chen ein rotes Tuch. „Unser Präsident hat die Frage nach der taiwanischen Identität unnötig hochgespielt“, schimpft der KMT-Politiker. „Ich dagegen bin stolz, ein Chinese zu sein.“ Noch vor vier Jahren leitete S. F. Chen Taiwans Vertretung in Washington. Nach dem Machtwechsel 2000 aber wurde er abgelöst. Seither wartet er auf die Wiederauferstehung seiner Partei, die Taiwan zuvor über 50 Jahre regierte. „Wir schaffen ein besseres Klima in den Beziehungen zu Peking“, verspricht S. F. Chen im Fall eines Siegs. „Aber ich bin gegen eine Vereinigung, weil ich gegen die Kommunisten bin.“ Hinter ihm prangt eine Karte der alten „Republik China“, die noch die Mongolei mit einschließt.

Die KMT hat es in diesem Wahlkampf nicht leicht. Fünfzig Prozent der Inselbewohner fühlen sich inzwischen als Taiwaner, 7 Prozent als Chinesen, der Rest als beides. Auch viele KMT-Anhänger, die aus wirtschaftlichem Pragmatismus keinen direkten Konfliktkurs gegenüber Peking wünschen, haben längst mit dem alten „Ein China“-Denken ihrer Partei gebrochen. Weshalb die KMT-Führung im Wahlkampf jeden prochinesischen Eindruck vermeidet. So legten sich Kandidat Lien und sein Vize James Soong vor ihre Anhänger und küssten minutenlang den Boden: Als Beweis ihrer grenzenlosen Liebe zu Taiwan.

Doch trotz aller Stimmungsmache werden Taiwans Wirtschaftsbeziehungen mit China immer enger. Das Festland, wo inzwischen 1,5 Millionen Inselbürger leben, ist zum größten Handelspartner aufgestiegen.

Wie aber Taiwan sich nach der Wahl aus dem Spagat zwischen wirtschaftlicher Annäherung und politischer Trennung mit Peking befreien kann, weiß auch Yang Nien Dzu nicht. „Wir leben in einem Dilemma zwischen Realität und Moral. Einerseits wächst der Handel mit China. Andererseits werden die Werte der Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung immer wichtiger“, sagt der Leiter des Chinese Council of Advanced Policy Studies, dem wohl einflussreichsten politischen Forschungsinstitut der Insel.