das wort zum montag
: Einer dieser Momente am Hauptbahnhof

Tief eingetaucht ist Kristo Šagor in Bremens Mix aus Nordischem und Klein-Berlin. Zurzeit Hausautor am Bremer Theater, holt er für die taz Perlen aus dem hanseatischen Schlick.

Gerade erst war ich aus der 24 ausgestiegen, da sah ich den Mann mit dem Leinenbeutel. Sein unsicherer Gang, der verschlissene Zustand seiner Jacke, sicherlich ein Betrunkener. Dann erkannte ich ihn als einen der Statisten aus der Hamlet-Inszenierung, und sein unsicherer Gang hatte nichts mit Alkohol zu tun, sondern mit seiner Behinderung. Eine Erscheinung, unwirklich, ein bärtiger Engel. Es sollte also einer dieser Momente am Hauptbahnhof werden. Als nächstes ein aggressiver Schrei mit vulgärer Stimme: „Tobias, komm her!“ Meine, Güte, was für ein Vater ruft so seinen Sohn? Danach die weibliche Stimme, eine nicht weniger vulgäre, hörbar angetrunkene Röhre: „Tobias, bei Fuß!“ Gott, sei Dank, kein Sohn, sondern nur ein Hund, das arme Vieh. Dann die Antwort: „Ich bin doch kein Hund!“ Die dritte Stimme ebenso volltrunken, und alle Aggression löst sich in einem dreistimmigen Lachkonzert auf. Ich gehe weiter, und eine Punklady kommt mir entgegen. Ihr zu enger Rock wirkt schottisch, ihre Augen sind total überschminkt: „Hast du ein bisschen Kleingeld?“ Natürlich schäme ich mich, als ich eine Negation nuschle, und mein Blick fällt auf einen jungen Türken, der der Punklady begehrlich hinterherglotzt. Im Bahnhof steuere ich das Photogeschäft an, in dem ich, wie es sich für einen guten deutschen Kunden gehört, etwas reklamieren will. Die übergenaue Dame in der Meldestelle in Berlin hatte die zu dunklen Passfotos nicht akzeptiert. Hinter mir stellt sich ein Mann mit Pferdeschwanz an, der seine halbgeleerte Sektflasche kurzerhand auf der Bedienungstheke parkt. Er mischt sich lautstark in das Beratungsgespräch des Kunden vor mir ein, der für seine zehn gekauften Filme gerade zehn Entwicklungsgutscheine erhält: „Als ich meine Filme gekauft habe, habe ich keine Gutscheine bekommen. Mit einem Betrunkenen kann man es ja machen.“

Der Höhepunkt meiner kleinen Odyssee erwartet mich aber im Zeitschriftenladen. Die Dame, die mich bedient, trägt eine pinkfarbene Bluse mit Rüschen links und rechts neben der Knopfleiste, und direkt hinter ihr befindet sich ein eindrucksvolles Sortiment von Pornomagazinen. Ich muss meine Augen nur fünf Zentimeter nach rechts wenden, und dann blicke ich nicht mehr in ihr Gesicht, sondern direkt zwischen die weit geöffneten Oberschenkel der Nackten auf der Titelseite.

Sicherlich hat sich dabei jemand was gedacht. Vielleicht wurden zu viele Pornomagazine geklaut, oder Jugendliche sollen davor geschützt werden, in ihnen zu blättern. Nun aber leitet mich die Nasenspitze der Verkäuferin direkt zur Vulva der Frau auf Seite eins.

Kristo Šagor