Die Schwellen werden immer höher

Gewalt in Familien nimmt zu, sagt Dorothea Zimmermann, Psychologin beim Mädchennotdienst von Wildwasser e. V. in Kreuzberg. Und durch den Sparkurs in der Stadt werden Kindernotdienste daran gehindert, frühzeitig einzugreifen

taz: Frau Zimmermann, gibt es einen Zusammenhang zwischen Gewalt in der Familie und der derzeitigen ökonomischen Krise?

Dorothea Zimmermann: Es lässt sich schon feststellen, dass sich derzeit der gesellschaftliche Druck auf die Familien extrem erhöht, z. B. durch ökonomische Zwänge und Benachteiligungen. Allerdings: Häusliche Gewalt und Gewalt in der Familie kommen in allen Familien vor – auch in denen, die ökomisch besser gestellt sind oder einen höheren Bildungsgrad haben.

Wie wirkt sich der ökonomische Druck aus?

Wir merken, dass der Druck an die Schwächeren weitergegeben wird und die Gewalt in Familien zunimmt. Um es konkret zu machen: In vielen Fällen, wo die Väter arbeitslos geworden sind, versuchen die Mütter, etwas hinzuzuverdienen. Die Unzufriedenheit des Mannes, der sich einer mehrfachen Abwertung und Belastung ausgesetzt sieht, wird eben oft an den Kindern ausgelassen und kann auch in Gewalt münden.

Machen sich die Sparmaßnahmen des Senats und der Bezirke bei den Projekten schon bemerkbar?

Die Jugend- und Kindernotdienste bekommen inzwischen keine Zuwendungen mehr vom Senat. Er hat die Verantwortung an die Bezirke abgegeben. Gleichzeitig hat er jedoch keinen finanziellen Ausgleich für die Bezirke geschaffen, damit sie die Arbeit tatsächlich weiterfinanzieren können. Die Tendenz in den Jugendämtern geht nun eindeutig dahin, für die Betroffenen eher private Lösungen zu suchen. Auf die Situation der Kinder und Jugendlichen wirkt sich das zum Teil katastrophal aus.

Lange Zeit hieß es, in der Jugendarbeit existiere ein funktionierendes Netz aus Prävention und Intervention.

Wir merken sehr deutlich, dass die Sparmaßnahmen schon an diesem Netz reißen. So wurden Jugendeinrichtungen aus dem niedrigschwelligen Präventivbereich geschlossen, wie beispielsweise das Mädchenzentrum Double X. In diesen Projekten fanden die Jugendlichen früher leicht Zugang zu Erwachsenen jenseits von Schule und Familie, denen sie sich bei schwierigen familiären Verhältnissen anvertrauen konnten. Dieser Bereich ist im Großen und Ganzen schon weggebrochen, obwohl er ein sehr gutes Netz bildete.

Hat sich mit den Kürzungen die Klientel des Mädchennotdienstes verändert?

Die Mädchen, die zu uns kommen, melden sich nun eben nicht mehr zu einem frühen Zeitpunkt. Im Grunde muss es erst zu manifesten Übergriffen gekommen sein, bevor sich die Jugendlichen Hilfe holen. Oder die Symptomatik ist dann schon so schwer, dass der Schulpsychologische Dienst oder eine psychiatrische Praxis eingeschaltet wurde. Die Zahl dieser Klientinnen, die meist sehr viel Unterstützung benötigen, nimmt zu. Abgenommen hat dagegen die Zahl derer, bei denen es durch einen kurzen Clearingprozess möglich wäre, das Problem zu beheben.

Feministische Mädchenarbeit klingt nach Abgrenzung und altbackenen Konzepten. Was halten Sie Kritikern entgegen?

Die Mädchen haben das auch gesetzlich verankerte Recht auf Unterstützung, die ihre spezifische Benachteiligung in der Gesellschaft mit einbezieht, wie beispielsweise die Normalität sexualisierter Grenzüberschreitungen und ökonomische Benachteiligung. Eine gute und mädchenspezifische Krisenarbeit, in der die Lebensrealität der Mädchen gesehen wird, kann dem Staat auf lange Sicht Geld sparen. Aber wir stehen immer vor der Schwierigkeit, zu belegen, was wir dem Staat an Folgekosten dadurch gespart haben, dass es bestimmten Mädchen, mit denen wir gearbeitet haben, besser geht.

Wo sehen Sie dringenden Handlungsbedarf im Bereich geschlechtsspezifischer Jugendarbeit?

Die Projekte, die es gibt, nicht sterben zu lassen. Das Wissen und die Kompetenz, die vorhanden sind, müssen auch im Sinne von Nachhaltigkeit genutzt werden. Und das fängt natürlich bei einer guten Krisenversorgung an. INTERVIEW: HEIKE KLEFFNER