Eine Oase, um Ruhe zu finden

In der Krisenwohnung des Mädchennotdienstes von Wildwasser e. V. finden seit zwei Jahren Teenager Zuflucht vor Gewalt und Stress. Doch die vielseits gelobte Einrichtung muss immer exklusiver arbeiten. Der Sparkurs der Jugendämter macht es zunehmend schwieriger, Mädchen hier unterzubringen

„Nur auf der Straße habe ich noch nicht geschlafen“

von HEIKE KLEFFNER

Mädchenrosa gestrichen ist in der Krisenwohnung des Mädchennotdienstes von Wildwasser e. V. nur der Schriftzug auf dem Eingangschild neben dem Kreuzberger Gründerzeithaus. Und die Notbremse auf dem Plakat neben der Tür: „Mädchennotdienst – Wenn du es nicht mehr aushälst, weil du z. B. Stress mit deinen Eltern hast“. Ansonsten dominiert die Palette der Regenbogenfarben die Einrichtung in der großen Altbauwohnung mit den abgezogenen Holzböden – eine froschgrüne Sofakuschelecke neben dem Computer im Wohnzimmer, rote und blaue Tagesdecken über Ikea-Betten. An der Wand hängt die schwarzweißrote Hausordnung: „Hier ist ein gewaltfreier Raum“.

In der Küche läuft die Spülmaschine, im Radio dudelt Kiss FM, ein Telefon klingelt ununterbrochen. Am Esstisch mit den zehn Stühlen und dem gelben Tulpenstrauß erklären die 15-jährige Beverly und die 16-jährige Diana, warum sie sich seit 24 Stunden ein Zimmer in der Krisenwohnung teilen. Auf den ersten Blick könnten die beiden dezent und modisch gekleideten Mädchen kaum normaler und gegensätzlicher wirken: Beverly, blonder Zopf, modische Kapuzenjacke, eng anliegendes rotes Top, goldbrauner Lidschatten; Diana, streng gescheitelter schwarzer Zopf, halblange rote Strickjacke, schwarzes Top und silberner Lidschatten.

Doch bei der Frage nach der Bedeutung des alltäglichen „Stresses mit den Eltern“ werden die Teenager ernst: Viermal ist Diana schon von zu Hause weggelaufen. Beim ersten Mal war sie 14. Die Stationen: Treberhilfe, Kindernotdienst, „aber auf der Straße habe ich noch nicht geschlafen“. Nach ein paar Tagen ist sie bisher immer wieder zurückgekehrt: zur alkoholkranken Mutter, die vor elf Jahren mit drei älteren Kindern und der damals fünfjährigen Diana vor dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland floh. Dianas Vater wurde vor einiger Zeit aus der Haft nach Bosnien abgeschoben; die Mutter hangelt sich von Duldung zu Duldung – überfordert mit Diana und den zwei jüngeren Geschwistern.

Gestern hat die 16-Jährige wieder ihre kleine Tasche gepackt. Zuvor hatte sie zweimal versucht, mit einer Tablettenüberdosis die Aufmerksamkeit der Erwachsenen in ihrer Umgebung zu wecken. Vergeblich. „Meine Mutter hat nichts gemerkt.“ Erst die vom Bezirksamt zugeteilte Familienhelferin registrierte Dianas Verzweiflung und rief beim Mädchennotdienst an. Am späten Abend ist Diana wieder in die Krisenwohnung eingezogen. Wie es weitergehen soll? Das schmale Mädchen zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, darüber entscheidet das Jugendamt.“

Pro Jahr suchen über hundert Mädchen zwischen 12 und 18 Jahren aus ganz Berlin in der Krisenwohnung des Mädchennotdienstes von Wildwasser e. V. Zuflucht. Neben Mädchen mit deutscher Staatsbürgerschaft kommen hierher auch Teenager türkischer, arabischer sowie südosteuropäischer und asiatischer Herkunft. Manchmal bringen Polizeibeamte auch junge Mädchen, die von Frauenhändlern nach Deutschland geholt und dann bei einer Razzia aufgegriffen wurden. Oder Schulsozialarbeiterinnen vermitteln eine verzweifelte Schülerin.

Manche Bewohnerinnen bleiben nur wenige Tage, bevor sie an eine andere Jugendhilfeeinrichtung weitervermittelt werden; andere haben auch schon ein Vierteljahr in der Wohngemeinschaft gelebt. Laut Statistik vermittelte der Mädchennotdienst über die Hälfte der Klientinnen an andere Einrichtungen, 25 Mädchen konnten in ihre Familien zurückkehren. Und drei sind „auf Trebe“.  Die Entscheidung, wie lange ein Mädchen hier bleiben kann, liegt in den Händen der jeweiligen Jugendämter. Und die zögern in Zeiten knapper Kassen, das mädchenspezifische Angebot und die Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch ein multinationales Betreuerinnenteam aus Sozialpädagoginnen, Erzieherinnen und einer Psychologin türkischer, iranischer, russischer, indischer und deutscher Herkunft zu finanzieren. 218 Euro pro Tag kostet die Unterbringung, die nicht geschlechtsspezifischen Kinder- und Jugendnotdienste werden pauschal von den Bezirken finanziert.

Weil sich der Mädchennotdienst ausschließlich durch die Unterbringungsgelder finanzieren muss, schwebt über der erst zwei Jahre alten Einrichtung ständig das finanzielle Damoklesschwert. Dorothea Zimmermann, Psychologin bei Wildwasser, warnt denn auch vor einer Milchmädchenrechnung. Das Angebot richte sich schließlich sehr spezifisch an Mädchen, die akut mit sexualisierter und häuslicher Gewalt konfrontiert sind oder es in der Vergangenheit waren – und das sei für Laien nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Zudem bietet das Team auch Elternarbeit und Beratungen an. Doch trotz des unbestrittenen fachlichen Lobs, das der Mädchennotdienst allerorten einheimst, wird es für Sachbearbeiterinnen der meisten Jugendämter zunehmend schwieriger, ihre Klientinnen hier unterzubringen. Mancherorts durchläuft ein entsprechender Antrag vier Stationen – vom Abteilungsleiter über den Gruppenleiter zum Jugendamtsleiter bis hin zum Stadtrat.

Ein kaum durchschaubarer Prozess, der Mädchen wie Diana durch das Warten auf eine Entscheidung über ihre Zukunft noch zusätzlich in Unsicherheit stürzt. Beverly kennt das schon. Vor einigen Wochen wurde sie aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie entlassen. Nach Hause zu ihrer allein erziehenden Mutter und deren neuem Lebensgefährten kann sie nicht mehr. Im Mädchennotdienst hilft das Team bei der Suche nach einer geeigneten längerfristigen Unterbringung. Beverlys größter Wunsch: „Dass meine Ängste aufhören.“ Beverly sagt, der Mädchennotdienst sei für sie „wie eine Oase, wo ich endlich Ruhe finden und mit Menschen sprechen kann.“ Das fängt bei Kleinigkeiten an, etwa dem täglichen gemeinsamen Mittagessen der Bewohnerinnen und Betreuerinnen. „Zu Hause gab es nichts zu essen“, sagt Beverly nüchtern. Der geregelte Alltag – Schulbesuch, feste Schlafenszeiten, Drogenfreiheit und die regelmäßigen Gesprächsrunden – sind für viele Mädchen völlig ungewohnt.

Über den Abschied von der Wohngemeinschaft mag Beverly noch gar nicht sprechen. Nachdenklich blättert sie in dem Buch, in dem ihre Vorgängerinnen sich verabschiedet haben. „Ich war ein sehr schweres Mädchen und habe jeden Tag Scheiße gebaut“, steht da neben einem roten Kussmund. „Jetzt gehe ich nach sieben Wochen weg und hätte nie geglaubt, dass es so schwer ist.“