niemand entkommt der neoliberalen inquisition von JOACHIM FRISCH
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Wie soll ein Vater seinen Kindern diese Welt schonend erklären, wenn täglich Menschen wie Bush und Merkel aus dem Fernseher heraus in die Stuben lügen und hetzen? Zum Glück gibt es Nischen jenseits der Pisa- und Konjunkturhysterie. Deshalb habe ich meine Tochter in eine Schule mit besonderer pädagogischer Ausrichtung geschickt. Keine Noten bis zur siebten Klasse, alle Kinder lernen ein Musikinstrument. Die böse Welt der Konkurrenz, des Neids und der Habgier bleibt noch außen vor.

Das hoffte ich zumindest. Bis zu jenem Elternabend der 6. Klasse, an dem ich feststellen musste, dass niemand der neoliberalen Inquisition entkommt. Da meldete sich ein Geschäftsmann und Vater zu Wort. Der Geschichtslehrer habe neulich mit den Kindern „Yesterday“ gesungen, statt die Punischen Kriege durchzunehmen. Zu denken gebe ihm dies, schleppe doch sein Spross nun eine beträchtliche Wissenslücke in Sachen Römisches Reich mit sich herum – so ähnlich drückte der besorgte Herr sich aus. Wobei ich mich fragte: Kann man eine Lücke eigentlich herumschleppen?

Ich fühlte mich ertappt, war ich doch erfreut gewesen über die Gesangseinlage, die meiner Tochter ein wenig Abwechslung im tristen Schulalltag beschert hatte. Schon erhielt der erboste Vater Schützenhilfe. Das solle sich mal einer in der freien Wirtschaft erlauben!, schnaubte es neben mir, was den Puniker zu einer weiteren Tirade ermunterte. Mit seinen Steuern bezahle er den Lehrer, und er verlange dafür Bildung und nicht Singsang. Freie Wirtschaft, echote es nun auch aus anderen Ecken des Klassenzimmers in Dolby Surround. Stellvertretend für den nicht anwesenden Barden duckte ich mich weg, als käme gleich ein Stahlmantelgeschoss geflogen.

Gern hätte ich jetzt den ewiggestrigen „Yesterday“-Interpreten umarmt und ihm fürsorglich den Angstschweiß von der Stirn getupft, als das Geblöke der Inquisitoren meine Sinne schwummern ließ. Hatte da tatsächlich einer Teeren und Federn gefordert? Den Pranger gar? Spitze Mutterstimmen mischten sich in den allgemeinen Tumult. So jagt ihn fort, fort, fort. Wie sollen unsere Kinder später im Kampf um Studienplätze und Lehrstellen bestehen, mit solch klaffenden historischen Wissenswunde!

Um Gottes Willen jetzt keine Abstimmung. Was, wenn die erboste Elternschaft unter Führung des Großinquisitors Spießrutenlauf mit Kopfnüssen durch Atlanten beschlösse? Und ich mich als Sympathisant des trällernden Historikers zu erkennen geben müsste? Zum Pult schreiten und eine feurige Apologie des Troubadours hinlegen? Ah. Ein rettender Gedanke. Bohlen! Ist er nicht der Fleisch gewordene Beweis dafür, dass das Singen plumper Weisen in der freien Wirtschaft ungleich mehr Erfolg verspricht als alles Wissen über sämtliche Punischen Kriege? Andererseits: Bohlen als Kronzeuge gegen neoliberale Leistungshysterie? Geht das? Der Kelch geht noch mal vorbei. Der Inquisitor verkündet ohne Abstimmung das Autodafé: nur fernmündliches Ausschimpfen, weil der Barde eh die Klasse verlässt. Puh, das war knapp.