: Jenseits der Hauptsache
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
60. Geburtstag. Heiter festlicher Tag. Sonnenschein. Morgens die Kinder mit Reisiger und der Giehse, Törtchen mit Lichtern, Verse. Reiche Geschenke und Blumen. Unübersehbare Post, Telegramme, Briefe aus Deutschland. Kaum zu lesen, geschweige zu beantworten. Mit Reisiger zu Fuß gegen Zürich, dann im Wagen mit K. zur Stadt. Bermann abgeholt, der mir im Wagen Frau Fischers Geschenk, zu Hause die seinen, die Kassette mit den Grüßen der Schriftsteller, die Erstausgabe der Wahlverwandtschaften überreichte. Familienessen. Musik der Kinder. Besuch von Raschers, gemeinsamer Thee. Immer Öffnen von Telegrammen und Briefen. Festlich bewegtes Herz … Thomas Mann, Tagebücher. 6. Juni 1935
Keine Feier; dafür eine kleine Reise. Familie ist inexistent – nein, nicht einmal eine Cousine dritten Grades. Es gratulieren vermutlich die Sparkasse – die eben Ärger macht wegen des Dispo-Kredits –, der Versicherungsvertreter und der Zahnarzt. Keine Glückwunsch-Akte seitens der Freunde: Ihnen ist in der Regel das Datum unbekannt, denn auf Festlichkeiten wird seit Urzeiten verzichtet.
Und? fragte der Kollege F., 40, ein wenig ängstlich, wie mir schien, vielleicht auch nur taktvoll und vorsichtig. Wie fühlt man sich?
Das Ende wird absehbar. Der Zustand der Gefäße macht es denkbar, dass in den nächsten zehn Jahren Schluss ist. Und, mal ehrlich, können Sie sich ein angenehmes Leben jenseits der 70 vorstellen, Arthritis, Wortfindungsschwierigkeiten, Verstopfung? Schon seit dem 50. betrachtet man den eigenen Körper von Jahr zu Jahr mit Wiederwillen und vermeidet, so gut es geht, die Begegnung.
Vor allem, antworte ich dem Kollegen F., hat man aufgehört darauf zu warten, dass die Hauptsache noch kommt.
Das sei doch in der Kindheit und Jugend das am stärksten quälende Gefühl. Dauernd schaut man auf die Uhr. Wann fängt das Leben endlich an? Und später, wenn die große Liebe auf sich warten lässt: Gehe ich etwa leer aus? Wenn man zwar den ersten Job hat, aber der eröffnet keine glänzenden Aussichten: Was habe ich wieder falsch gemacht? Immer fehlt was; nie kann man es sich auf einem erreichten Niveau gemütlich machen und mit Mutter Kempowski meinen, wie haben wir es schön! Das gelingt bloß den anderen; vor allem Harbusch soll es unglaublich weit gebracht haben, auch von Gleim hört man Grandioses – die leibhaftigen Treffen mit den alten Kumpels schliefen längst ein.
Aber Sie haben doch noch was vor?, insistiert der Kollege F. Sie wollen doch nicht behaupten, Ihr Leben sei abgeschlossen?! – Ich erklärte aber gerade der Kollegin H., dass ich schon mit 35 aufhörte Jeans zu tragen; wie sich überhaupt ab da ein Abschiedsprogramm von der Jugend einspielt. Wer 35 wird, pflegte ich mit 45 zu wiederholen, wird auch 40, und dann ist es, nach den eigentümlichen Lebensalterverschiebungen in unserer Gesellschaft, mit der Jugend endgültig vorbei. Dann beginnt das Erwachsensein. Ach, darüber schweigen wir lieber, sagte J., als ich mit ihr auf der Party plauderte, die sie zu ihrem 40. Geburtstag gab; ihre Tochter ist jetzt 5, der Sohn 3.
Als merkwürdig habe ich zu berichten, dass ich ihr die 40 nicht ansehe; für mich ist sie immer noch dieselbe wie mit 28, als ich sie kennen lernte. Überhaupt verschwimmen für mich zwischen, sagen wir: 18 und 40 alle Altersstufen zu ein und derselben. Neulich begrüßte mich A. im Café, lange nicht gesehen, 30 und promoviert und in einem hoch spezialisierten Beruf hoch erfolgreich – für mich sah sie immer noch aus wie 18. (Und wie habe ich es gehasst, wenn ich mit 50 von Mutter als ihr lieber Junge traktiert wurde … Und wie unendlich alt erschien einem mit 20 eine 25-Jährige …)
Indem man sie durchläuft, kann man die anthropologische Prägekraft der Lebensalter erkennen. Der junge Mensch neigt bekanntlich zu anderen politischen Optionen als der 40-jährige. Aber auch zu anderen ästhetischen: Irgendwann jenseits der 40 (diesseits müsste ich sagen) entfernte ich die Romane von Pierre Klossowski aus meiner Bibliothek. Bewunderte ich sie früher für das große Geheimnis, das in der Undurchsichtigkeit ihrer Handlungsführung und Personengestaltung verborgen schien und das ich nicht zu lösen vermochte, so wurde mir dann dies Geheimnis komplett gleichgültig. Die Lösung, sollte es sie geben, versprach mir nichts mehr. Ja, ich begann die Geheimnistuerei des Autors für Scharlatanerie zu halten.
Ähnliche Geschichten könnte ich für Lacan erzählen; und Derrida und Deleuze; von Baudrillard zu schweigen. Ich war schon zu alt, als sie in Moden kamen. Die Undurchdringlichkeit ihrer Formulierungen konnten sich nicht mehr mit der Undurchdringlichkeit meines Lebens verbinden, dessen ich so bald wie möglich habhaft werden müsste, weshalb diese Theorien zu adaptieren so verlockte. Ich weiß genau, wie mich mit 20 die Zweifel an der Realität der Außenwelt piesackten. Aber unsereins investierte sie dann in die Manipulationstheorien von Adorno et al., in die Ideologiekritik am falschen Bewusstsein unterm Spätkapitalismus; Baudrillard, gar Matrix, womöglich Matrix Reloaded, das sind doch Rittersagen für die neueste Jugend. Gewisse Theorien ebenso wie Kunstwerke, will ich sagen, sind haargenau anschlussfähig zur Weltsicht des jungen Menschen. Aber im Altern hört sie verständlicherweise auf, die einzig mögliche zu sein. Irgendwann litt ich nicht mehr darunter, dass das Ganze das Unwahre sei – es ist doch ohnedies ungreifbar. Andere Leiden stellen sich ein. Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Twin Towers wirklich von Ussama und den seinen zerstört worden sind.
Solche Geschichten kann ich also auch für politische Meinungen und Überzeugungen erzählen, die im Lauf der Zeit – oft stillschweigend und unbemerkt – drastische Wandlungen durchlaufen. Besonders eindrucksvoll fand ich, wie eine Neigung schwindet, die ich ödipalen Antiautoritarismus nennen möchte. Sie gibt sich darin aus, dass man immer und jederzeit genau weiß und sagen kann, wie der Bundeskanzler oder der russische oder der amerikanische Präsident – you name it – alles falsch machen. Der Gedanke, politischen Autoritäten auch mal zuzustimmen, ist ein unerträglicher – Dr. G., eine befreundete Psychoanalytikerin, meint, junge Männer befürchteten dabei eine homosexuelle Vergewaltigung, unbewusst, daher die Abwehr – ich gebe das nur weiter.
Bundeskanzler oder Präsident war nie mein Traumberuf. Aber darauf braucht man nicht stolz zu sein. Und jeden, der politische Macht erstrebt oder gar erlangt, mit automatisierter Abscheu zu begegnen, ihn zwecks „Empörungsgenuss“ (Caroline Fetscher) jederzeit als Lügner und Verbrecher zu überführen, das ist doch ein bisschen kindlich, gell?
Und wenn Bundeskanzler mein Traumberuf wäre, ich würde es nicht mehr schaffen. Wie gesagt, es ist Unfug, jetzt noch auf die Hauptsache zu warten. Was näher kommt, ist der Tod, jetzt erst in einer leichten Neigung zu Abschied und Verzicht, wie ich dem Kollegen F. erklärte, nichts Dramatisches; als ob ein stumpfer, aber unsichtbarer Lack die Dinge überzieht.
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