Armer Schlurfer

Mit diesem Helden ist kein Staat zu machen: Immerfort liegt oder lehnt der Raskolnikow, den Jens Harzer in Andrea Breths Dostojewski-Adaption nun auch auf die Bühne der Berliner Festspiele bringt

VON ANNE PETER

Von Anbeginn ist er am Ende, Jens Harzers Raskolnikow. In den Händen windet er jenes Beil, mit dem er einst gemordet hat, tief gebeugt von einer Schuld, die er doch nicht einsieht. Wie in einem Verhör unter Folter gesteht er der Männerstimme aus dem Off auf die Frage, ob er an Gott, das Neue Jerusalem, die Auferstehung des Lazarus glaube: „Ich glaube.“ Es klingt nicht wie das Bekenntnis eines Geläuterten, sondern wie die resignierte Antwort eines ewig Verdammten.

So beginnt Andrea Breths fünf Stunden lange Inszenierung von „Verbrechen und Strafe“, mit der in diesem Sommer die Salzburger Festspiele eröffneten. Nun kommt sie für „spielzeiteuropa“, die prominente Gastspielreihe der Berliner Festspiele, nach Berlin. In seinem psychologisch feingliedrigen, philosophisch aufgeladenen Roman wühlt sich Dostojewski tief in die widersprüchliche Psyche des Studenten und Mörders Raskolnikow. Als Theoretiker hat der die Menschen in zwei Kategorien geteilt: die Gewöhnlichen, die alle Schranken fraglos hinnehmen, und die Außergewöhnlichen, die sich im Namen einer Idee über alle Gesetze hinwegsetzen. Als Mensch zerbricht er an der Praxis: Er erschlägt eine alte Pfandleiherin mit dem Beil, fällt ins Fieber und gibt schließlich, zermürbt von den Verhören des ermittelnden Staatsanwaltes Porfirij, sein Geständnis ab. Acht Jahre wird er zur Zwangsarbeit nach Sibirien geschickt und findet, so der nüchterne Schlussbericht des Erzählers, durch die liebende Kraft der ihn begleitenden Sonja plötzlich zu Gott – ein buchstäbliches Wunder.

Mit dem Geständnis gleich zu Anfang kappt Andrea Breth, die für ihre Textgenauigkeit und Figurenführung berühmte Regisseurin, auch die Krimispannung des Romans. Dessen Handlung lässt sie nun wie einen wiederkehrenden Traum aus dem Dunkel tauchen. Eine flirrende Fieberfantasie, einen Albtraum inszeniert Breth, der in disparaten, surreal anmutenden Bildern und Szenenfetzen um Raskolnikow aufblitzt, scharf durchs Black getrennt.

Vor einem diffusen Straßentunnel, eine dezent ins Heute weisende Übersetzung der Gossen von St. Petersburg, liegt Raskolnikow vorn an der Rampe, kauert da wie einer ohne Obdach. Der Bühnenbildner Erich Wonder liefert suggestive, verschwommen vage Trostlosigkeitsorte. In abgerissenen Sandalen schlurft Harzers Raskolnikow durch einen Elendsbilderreigen, über einer zerbeulten Hose und den fallenden Schultern trägt er einen schäbigen Mantel, auf dem Kopf eine Mütze, die nach Pelz nur aussieht.

Ganz still steht er da, wenn Marmeladow, der alles Geld versaufende Vater Sonjas, die Passionsgeschichte seiner Familie erzählt. Still, aber nicht kalt, traurig bis zur Erschöpfung. Immer ist da diese Leidens- und Zweifelsfalte zwischen Harzers Brauen. Wenn er zuweilen langsam den Kopf schüttelt, gilt das der armen, abgewrackten Menschenwelt, durch die er geht. Es ist tatsächlich, als wandele dort ein „bleicher Engel daher“, wie sein Gegenspieler Porfirj (verschalkt und abgefeimt: Udo Samel) einmal über Raskolnikow sagt. Manchmal streckt er kurz eine helfende Hand aus und zieht sie dann sogleich wieder zurück.

Harzers Raskolnikow ist, und so hat das durchaus schon Dostojewski angelegt, kein kaltes Wutwesen, sondern ebenso ein warmherziger Wirrer – zum Guten wie zum Bösen befähigt. Ihm zu folgen macht große Mühe auch gerade da, wo man ihn wider besseres Wissen versteht. Wenn er die Mordsarbeit vollbringt, macht das eigene Herz ihm das Beil schwer. Wie besinnungslos hackt er keuchend die Luft durch, bis zur körperlichen Verausgabung. Unglaublich dünnhäutig, schwankend, gar zärtlich spielt Harzer das Schwächeln dieses Menschen. Immerfort liegt oder lehnt sein Raskolnikow. Oder setzt ganz langsam die kleinen Schritte. Der Mörder als müder Mitleidsmensch, ein zutiefst ambivalentes Wesen.

Nicht alle Schauspieler um Harzer, der in einer Kritikerumfrage von Theater heute zum Schauspieler des Jahres 2008 gewählt wurde, agieren auf seiner schwebenden Höhe. Manche erscheinen wie Scherenschnitte von bloß einer Seelentemperatur. Nicht immer auch wollen die Mehrfachbesetzungen einleuchten. Dass Harzer am Ende Hitler und Napoleon als Verwirklicher des Prinzips der Außergewöhnlichen zitiert, wenn auch virtuos beiläufig, läuft der sonstigen Anlage seiner Figur zuwider. Es ist auch zu eindeutig, beinahe platt inmitten der Schwerdeutigkeit dieser Inszenierung, die vehement darauf besteht, dass der Mörder mitunter der bessere Mensch sein kann.

„Verbrechen und Strafe“ noch einmal heute, 17 Uhr, Haus der Berliner Festspiele