Vorzimmer der Vernichtung

Der polnische Historiker Robert Kowalek berichtet im Kölibri über Durchgangsghettos in Ostpolen

Auschwitz ist zum Synonym für die Vernichtung des europäischen Judentums geworden. Andere Orte des Schreckens wie Treblinka, Sobibor oder Belzec sind dabei aus dem Bewusstsein vieler verdrängt worden. Doch die Reduzierung der öffentlichen Wahrnehmung auf Auschwitz (Oswiecim), fördert noch andere Formen des Vergessens. Denn die weitgehende Ausblendung der Erinnerung an Lager wie Treblinka und Sobibor liegt unter anderem darin begründet, dass dies – im Unterschied zu Auschwitz – reine Vernichtungslager waren, die tatsächlich fast niemand überlebte, der davon erzählen oder institutionelle Erinnerung propagieren könnte. Zudem waren die Insassen der ostpolnischen Lager großteils polnische Juden, an die zu erinnern sich der polnische Staat immer noch recht schwer tut. Erst die Diskussion um die Pogrome von Jedwabne hat hier ein wenig Bewegung gebracht.

Ingrid Strobl hat einmal geschrieben, die Nationalsozialisten hätten nicht ohne Bedacht Polen „zu ihrem Schlachthaus gemacht“. Die geographische Ferne der nationalsozialistischen Vernichtungslager entspricht der emotionalen Ferne, mit der schon immer die Frage nach dem Schicksal der in den Osten deportierten jüdischen Nachbarn verdrängt wurde. Auschwitz erstarrt im kollektiven Gedächtnis der Deutschen zu einer beschwichtigenden Formel, deren Gehalt darin liegt, das Schicksal der Juden möglicherweise zu bedauern, sich aber nicht wirklich mit den historischen Geschehnissen auseinander setzen zu wollen.

Vor diesem Hintergrund organisiert der Hamburger Arbeitskreis gegen das Vergessen im Bildungswerk Stanislaw Hantz jetzt eine Veranstaltung mit dem Historiker Robert Kuwalek, der an der Gedenkstätte Majdanek in Lublin die Geschichte des polnischen Judentums erforscht. In seinem Vortrag heute Abend im Kölibri stellt er seine Untersuchungen zur bis heute wenig bekannten Geschichte der „Durchgangsghettos“ in Polen vor. Diese in kleinen Städten und Dörfern wie Izbica, Piaski oder Rejowiec errichteten Ghettos lagen auf der Haupteisenbahnstrecke zu den späteren Vernichtungslagern wie Belzec und Sobibor, in denen bis Ende 1943 über 1,7 Millionen Menschen ermordet wurden.

Kuwalek richtet seinen Blick auf eine Phase des Vernichtungsprozesses, in der die bis dahin brutalen, aber teilweise noch unsystematischen Mordaktionen in ein organisiertes Vernichtungssystem münden. Seit dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 erschossen die „Einsatzgruppen“ dort bis Dezember 1941 nach Schätzungen etwa eine halbe Million Jüdinnen und Juden. Den deutschen Planern erschien dies als „ineffektiv“, und seit Herbst 1941 ersannen sie neue Formen der Massentötung. Während in Auschwitz mit Zyklon B experimentiert wurde, setzte die SS seit Oktober 1941 in Chelmno „Gaswagen“ ein, mit denen in einen LKW gepferchte Menschen durch die Motorabgase des fahrenden Fahrzeugs erstickt wurden. Gleichzeitig wurden die Lager Belzec, Sobibor und Treblinka zwischen November 1941 und Juli 1942 errichtet. Der einzige Zweck dieser – wegen ihrer Lage am Fluss Bug auch „Buglager“ genannten Vernichtungslager – war im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ die Ermordnung aller Einwohner der bis dahin in den Ghettos des „Generalgouvernements“ (heutiges Ostpolen) lebenden jüdischen Gemeinden. In Belzec wurden so durch die Deutschen 600.000, in Sobibor 250.000 und in Treblinka 870.000 überwiegend polnische Juden durch Motorenabgase umgebracht.

Robert Kuwalek wird insbesondere über die bisher wenig beachtete Rolle der Durchgangsghettos als „Vorzimmer“ der Vernichtungslager berichten. Auch fast 60 Jahre nach dem Ende des Krieges zeigt sich damit einmal mehr, dass mit zunehmender zeitlicher Distanz die Fülle der noch nicht erforschten historischen Fakten der Shoah eher zu- als abnimmt.

ANDREAS BLECHSCHMIDT/PS

heute, 19.30 Uhr, Kölibri, Hein-Köllisch-Platz 12