Jochen allein zu Haus

In der „Apotheken-Umschau“ steht, man soll zu seiner Panik nicht sagen: „Hau ab!“, sondern: „Setz dich zu mir, red mit mir!“ Gegenüber nimmt also die Panik Platz. Links sitzt das Selbstmitleid und rechts das schlechte Gewissen. Sie haben zusammengelegt und ein Geschenk gekauft. Eine Geschichte

von JOCHEN SCHMIDT

Wenn ich mich einsam fühle, mache ich einfach das Radio an. Den Klassiksender, dann denke ich, meine Eltern sind da. Dazu ein zweites Radio mit Deutschlandsender Kultur, das hat meine alte Freundin immer gehört. Sie war kulturell sehr interessiert. Auf einem dritten Radio lasse ich Multikulti laufen, dann denke ich, ich habe Besuch aus der weiten Welt. Alle halbe Stunde kommen neue Leute, Makedonier, Polen, Italiener. Dazu lege ich eine meiner alten Kinderplatten auf „Huckleberry Finn“. Die habe ich immer gehört, wenn ich krank war.

Jetzt geht es in meiner Wohnung zu wie in einem Taubenschlag, alle reden durcheinander. Meine Eltern hören Wagner, noch dazu ohrenbetäubend laut. Ich verstehe kaum etwas von „Huckleberry Finn.“ Meine Freundin hört ein Feature über chinesische Musikinstrumente. Meine ausländischen Freunde reden wild durcheinander. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Ich muss mich auf dem Klo einschließen, um in Ruhe Radio zu hören. Wird Zeit, dass ich mir eine größere Wohnung suche und nicht alle Radios im selben Zimmer laufen müssen. Dann klingelt es, ich gehe aber nicht hin, ich habe jetzt keine Nerven für ungeladene Gäste. Ich habe eigentlich panische Angst vor Gästen. Sie halten sich nicht an Besuchszeiten. Sie sitzen immer im Weg, melden sich ungefragt zu Wort. In der Apotheken-Umschau stand, man soll zu seiner Panik nicht sagen: „Bleib weg! Hau ab!“, sondern: „Setz dich zu mir, red mit mir!“

Ich setze mich also an den Tisch, mir gegenüber nimmt die Panik Platz. Links von mir sitzt mein Selbstmitleid und rechts mein schlechtes Gewissen. Mein Selbstmitleid nörgelt rum, es möchte lieber rechts von mir sitzen, aber mein schlechtes Gewissen hat sich vorgedrängelt und zermürbt sich deswegen. Die Panik trommelt nervös mit den Fingern. Sie will nicht mit dem Rücken zum Fenster sitzen. Außerdem sind ihr hier zu viele Menschen. Ich kann aber die Radios nicht abstellen, dann würde ich selbst Panik bekommen in der plötzlichen Stille. Jetzt klingelt auch noch der Wecker. Ach so, ich habe ja heute Geburtstag.

Und weil niemand daran denken würde, mich zu überraschen, habe ich den Wecker gestellt, damit er mich überrascht. Die Überraschung ist gelungen. Ob das vorhin ein Geburtstagsgast war, der geklingelt hat? Vielleicht ja sogar mehrere. Ich gehe raus, um nachzusehen, ob sie noch da sind. Die Straße ist voller Menschen. Jeder von ihnen könnte mein Geburtstagsgast sein. Auch wenn ich sie nicht kenne, aber ich kann mir Gesichter nie merken. Außerdem wollen sie mich sicher überraschen und verstellen sich. Ich tue so, als ob ich nichts mitbekomme, um ihnen den Spaß nicht zu verderben. Plötzlich ist die Straße leer. Kein Mensch mehr zu sehen. Ich irre eine Weile durch die Gegend. Die Stille ist fast schon ein bisschen gruslig. Da hält mir jemand von hinten die Augen zu. Wer könnte das sein?

„Hanibal Lecter“, rate ich.

„Falsch!“

Ich drehe mich um und traue meinen Augen nicht: Alle Menschen, die es gibt, stehen hinter mir. Ich erkenne den Regierenden Bürgermeister, den Postboten, meine Nachbarn, Udo Lindenberg, Steffi Graf und Andre Agassi, sie alle haben den Weg gefunden und singen „Hoch soll er leben“. Sogar meine Panik versteckt sich ganz hinten hinter Sylvester Stallone. Mein schlechtes Gewissen darf natürlich nicht fehlen, obwohl ich mir vorstellen könnte, dass es nur gekommen ist, weil es sonst ein schlechtes Gewissen bekommen hätte.

Da tritt mein Selbstmitleid vor und überreicht mir ein Päckchen. „Wir haben zusammengelegt und dir ein Geschenk gekauft“, sagt es.

„Danke“, erwidere ich gerührt. Ich wickle das Paket aus und betrachte mein Geschenk.

„Damit du nicht immer so allein bist“, sagt mein Selbstmitleid. Es ist ein Radio.

Heute, 21 Uhr, feiert die Chaussee der Enthusiasten mit Jochen Schmidt und anderen die Heftchen-Release-Party der neuen Brillenschlange, ihres offiziellen Fanzines. Lesung, Konzert (Die Pillocks – Oi-Punk) und Diskotheca Enthusiasta. Im RAW-Tempel, Revaler Straße 99, Friedrichshain