Bestimmend und abwesend zugleich

Annett Gröschner sichtet die Spuren eines Vater-Sohn-Konflikts. Die Protagonisten: Peter Jung und Franz Jung

Als Franz Jung angeschlagen durch Europa irrt, hält Peter Jung ihm sein kleines Glück entgegen

Der legendäre Vater bleibt für Peter Jung eine lebenslange Leerstelle. „Wenn ich ehrlich bin, interessiert mich der Autor Franz Jung bis heute nicht“, gesteht der Sohn in seiner Lebensgeschichte. Das ostentative Desinteresse verbindet sich bei ihm mit dem Unwillen des Emigranten, auf das Vergangene zurückzublicken. Die meisten Briefe des Vaters hat er für literarisch wertlos gehalten und weggeworfen. Und weil er sein Leben als bewusste Entscheidung gegen die Erinnerung geführt hat, wurde es jetzt mit fremder Hilfe zu Papier gebracht. Die Publizistin Annett Gröschner hat Tonbandinterviews mit Peter Jung redigiert und mit Zeitzeugenberichten, Lebensdokumenten und eigenen Reiseeindrücken auf den Spuren der Familie Jung zu einer mehrstimmigen Vater-Sohn-Biografie zusammengesetzt.

Der erste Teil dieser Geschichte spielt in Europa, wo Peter Jung, 1932 in Berlin geboren, seinem Vater – der als experimenteller Schriftsteller, ehemaliger Revolutionär, Freund antibürgerlicher, verworrener Familienverhältnisse (und noch einiges mehr) vor den Nazis fliehen muss – auf verschiedenen Etappen des Exils nach Genf, Wien und Budapest folgt. Das Kriegsende erlebt Peter als mittelloser Flüchtling in Rain am Lech. Der Vater, der sich zwischenzeitlich aus dem Staub gemacht hat, bleibt für ihn immer lebensbestimmend und abwesend zugleich. Nachdrücklich sind Peter Jung drei baumelnde Deserteure an der Dorfstraße im Gedächtnis geblieben: „In dieser Zeit bin ich vollkommen unsentimental geworden. Wenn man als Kind mehrere Male alles verliert und Leute aufgehängt an einem Baum schaukeln sieht, das Kinn auf der Brust und ganz leblos, und man später von diesen ganzen Gräueltaten hört und liest, dann verliert man das Gefühl, um Sachen zu trauern.“ Doch Gröschners spätere Nachforschungen vor Ort relativieren die Erinnerung, auf die sich immerhin eine ganze Lebenseinstellung stützt. Lokalhistoriker können die Episode nicht bestätigen. Im Januar 1950 folgt Peter seinem Vater nach Amerika. Er glaubt, dass sein Vater einiges an ihm gutmachen will.

Aber der ist längst in eigener Depression versunken: „Für mich hat zwar schon lange das Leben seinen Sinn verloren, aber ich habe aus den 60 Jahren […] so viel innere Disziplin gewonnen bzw. sie ist mir zugewachsen, dass ich etwas weiter aufrechterhalte, was ich weder zu ändern noch zu verändern imstande bin.“ In Amerika kommt es zur Revanche: Peter Jung assimiliert sich, studiert, heiratet und absolviert eine atemberaubende Karriere in der Ölindustrie – gegen den Fatalismus des Vaters, der 1960 nach Europa zurückkehrt. Die Entfremdung unter umgekehrten Vorzeichen dokumentieren die letzten Briefe.

Wie früher der Sohn kann jetzt auch der Vater seine Enttäuschung nur gegenüber Dritten artikulieren. Und es klingt fast sadistisch, wenn Peter seinem Vater, der finanziell und gesundheitlich angeschlagen durch Europa irrt, sein kleines glückliches Familienleben entgegenhält. Als Franz Jungs „Weg nach unten“ erscheint, schreibt Peter gönnerhaft: „Ich bin erstaunt, stolz und voller Hochachtung vor Deiner ganz außerordentlichen Beherrschung der Sprache. Du bist ein craftsman!“ Doch eigentlich ist er enttäuscht, weil der Vater im Buch die gemeinsame Zeit in Amerika unterschlagen hat. Als ferne Nachricht reiht er den Tod des Vaters in die zurückliegenden Verlusterfahrungen seines Lebens als Selfmademan ein: „Mir war die ganze Zeit über bewusst, wo ich herkam – aus dem Nichts.“

Wie zur Bestätigung der Erinnerungslücken Peter Jungs entdeckt Annett Gröschner an den alten Schauplätzen seines Lebens nur sich selbst. Wo sie selbst zur Protagonistin wird, scheint sie manchmal fassungslos zu sein, wie sich die Spuren alten Lebens im bedeutungslosen Wiederentdecken verlassener Häuser und verblassender Inschriften erschöpfen. Doch glücklicherweise ist das biografische Material so geschickt arrangiert, dass immer offen bleibt, hinter welchen Amnesien nicht allein Einsicht in alles Vergängliche, sondern vielleicht auch der Schmerz eines unausgetragenen Vater-Sohn-Konfliktes liegen kann. JAN HENDRIK WULF

Annett Gröschner/Peter Jung: „Ein Koffer aus Eselshaut“. Edition Nautilus, Hamburg 2004, 288 Seiten, 22 €