Diese nervöse Angespanntheit

„Die Wurzeln der Romantik“: Isaiah Berlin begibt sich auf die Suche nach den Tugenden des romantischen Geistes

Die Romantik ein Verläufer des Faschismus? Nein, sagt Isaiah Berlin: Ihr letzter Schluss ist Liberalität

Die Romantik, die hat immer Schuld. Victor Klemperer machte sie verantwortlich für die deutsche Hitlerei, Dan Diner erkannte in ihr den Ursprung unseres Antiamerikanismus, und für den Historiker Rolf Peter Sieferle sind Eichendorff und Novalis die ersten Fundis der grünen Bewegung. Posthorn und Nachtigall, so heißt es immer wieder vorwurfsvoll, trällerten die deutsche Schicksalsmelodie.

Bei so viel Tadel möchte man die bedröppelten Romantiker, diese jungen Talente und hommes fatal fast ein wenig schützend in die Arme schließen. Kaum ein dunkler Fleck auf der nationalen Weste, für den man sie nicht hat strammstehen lassen. Was indes genau sie in ihrer Epoche bewerkstelligt hatten, dass es bis in unsere Gegenwart nachhallt, dem ist nur selten fundiert nachgegangen worden.

Isaiah Berlin hat es versucht. 1965 hielt der englische Ideengeschichtler eine Vorlesungsreihe an der Universität Oxford, deren Skript nun posthum im Berlin Verlag veröffentlicht worden ist. „Die Wurzeln der Romantik“ hatte Berlin seinen Vortrag überschrieben. Und in der Tat versucht er nicht weniger, als sich auf die Spuren jenes Epochen- und Ideenbruchs zu setzen, der zwischen 1760 und 1830 zunächst Deutschland, später aber fast den gesamten europäischen Kontinent erschüttern sollte.

Für Berlin entspringt die romantische Revolution einer typisch deutschen Gemütsverfassung. Sie ist ebenso melancholisch und neurotisch wie die nach 1648 dahindarbende deutsche Nation und Kultur. Pietismus und Innerlichkeit waren die Reaktion auf gekränkten Selbstwert und politische Unzufriedenheit. Zudem sorgten Aufklärung und Französische Revolution für zunehmende Orientierungslosigkeit.

In der Romantik bricht sich diese nervliche Angespanntheit Bahn. Ein ästhetischer Reflex auf das wissenschaftliche Zerstückeln der Wirklichkeit, den regelhaften Verlauf der Welt und die Anpassung an Begriffe und nackte Theorien. Das klingt zunächst recht konventionell; und in dieser Lesart unterscheidet sich Berlin nicht sonderlich von den gängigen Epochendarstellungen eines Manfred Frank oder Ernst Behler. Romantik, so Berlin, sei eine Revolte von „Qualität gegen Quantität“, von „antiwissenschaftlichen Sehnsüchten und Begierden“.

Der gängige Vorwurf des Antimodernismus ist da nur noch einen Steinwurf entfernt. Allzu oft hat man über die neue Sehnsucht nach Mythen, Einheit und élan vital, die Biege zum „Mythus des 20. Jahrhunderts“ gemacht. Gerade so, als wüchse die Blaue Blume im braunen Sumpf, wurden Novalis und die Schlegel-Brüder zu den geistigen Paten Hitlers oder Rosenbergs ernannt.

Isaiah Berlin ist da vorsichtiger. Zwar erkennt auch er eine Verwandtschaft zwischen Faschismus und Romantik, diese aber sei primär durch Verzerrungen zu Wege gebracht worden. In vielerlei Hinsicht erscheint die Ära an der Schwelle zum 19. Jahrhundert hingegen progressiv und modern. Indem Berlin den romantischen Geist bereits in der Philosophie Herders am Werke sieht, gelingt es ihm, der Epoche zeitgemäße Anschauungen abzugewinnen.

So habe die Vorstellung, dass Werte nicht mehr universell, sondern stets in der ihr eigenen Zeit und Kultur verwurzelt seien, zu einem neuartigen Wertepluralismus geführt. Für Herders Zeitgenossen mag das noch befremdlich geklungen haben. Heute indes kann man darin die nötigen Tugenden fürs 21. Jahrhundert entdecken: Toleranz sowie die Relativität von Normen. „Der Romantik letzter Schluss“, so das Urteil des Autors, „ist Liberalität, Anständigkeit und die Anerkennung aller Unvollkommenheiten des Lebens.“

Isaiah Berlin, dessen Werke zumindest in Großbritannien zu Klassikern des philosophischen und politischen Liberalismus avanciert sind, mag mit dieser Darstellung somit nicht nur die Romantik, sondern vor allem sein eigenes Denken verwurzelt haben. Auf die Frage nämlich, was Romantik sei, antwortete einst der Philosoph George Boas: „Es ergab sich, dass eine Vielfalt ästhetischer Lehren entstanden ist, die alle mit demselben Namen bezeichnet wurden.“ Jeder mag da etwas für sich herauspicken. Doch obacht! So wie viele John Smith hießen, meinte Boas weiter, bedeute das nicht, dass alle von gleicher Abstammung seien.

RALF HANSELLE

Isaiah Berlin: „Die Wurzeln der Romantik“. Berlin Verlag, Berlin 2004, 276 Seiten, 19 €