Dem Schachgott dämmert es

Fast 20 Jahre lang war der Russe Garri Kasparow der beste Schachspieler der Welt. Nun, da er schlagbar geworden ist, will er in die große Politik rochieren

BERLIN taz ■ Garri Kasparow hat bis auf eine kurze Unterbrechung seit 19 Jahren die Schach-Weltrangliste angeführt. Wie Kaninchen vor der Schlange saßen seine Kontrahenten während dieser Zeit meist am Brett; der Russe musste dort dann nur noch die meist leichte Beute verschlingen. Doch plötzlich begehren die anderen Großmeister auf, anstatt wie bisher vor sich hin zu mümmeln. Götterdämmerung! Wladimir Kramnik, der vor drei Jahren Kasparow als Weltmeister entthronte, sprach das Unaussprechliche nach seinem Turniersieg im spanischen Linares aus: „Meiner Meinung nach ist Kasparow nicht mehr die Nummer eins!“

Der in Linares drittplatzierte Moskauer tritt inzwischen öfter bei Showveranstaltungen als bei richtigen Turnieren auf. So signiert er am morgigen Freitag in Dresden während der Damen-Europameisterschaft den zweiten Band seiner Buchreihe „Meine großen Vorkämpfer“. Am Samstag wiederum lässt Kasparow um 12 Uhr in Berlin eine Autogrammstunde folgen, ehe um 14 Uhr im KaDeWe ein Simultan an mehreren Brettern gegen eine Jugendauswahl ansteht.

Weil Kasparow der schlechteste Verlierer im Schachzirkus ist, bereitet der Großmeister wohl seinen Abschied auf Raten vor. Am liebsten würde der gebürtige Aserbaidschaner den Kreml matt setzen und in die große Politik wechseln. Obwohl bereits bei seinem Aufstieg 1985 zum Weltmeister vom KGB-Chef in Baku protegiert, gefällt sich Kasparow in der Rolle des Retters der Demokratie. Erst firmierte der Denkakrobat unter Gorbatschow penetrant als „Kind des Wandels“, während WM-Dauerrivale Anatoli Karpow als Apparatschick und Kommunist gegeißelt wurde. Als Gorbatschows Stern zu sinken begann, gründete der Großmeister 1990 die Demokratische Partei. Mangels Erfolg unterstützte er 1996 General Alexander Lebed in der Bewegung „Die dritte Kraft“. Seit ein paar Wochen steht das Stehaufmännchen dem Komitee für „Freie Wahlen 2008“ vor. Das hehre Ziel der liberalen Vereinigung um den ehemaligen Vizepremierminister Boris Nemtsow besteht darin, für faire Präsidentschaftswahlen zu sorgen, die heuer unter Putin nicht möglich gewesen seien. Russland sei ein „Polizeistaat“ mit Zensur, ein „rechtsfreier Dschungel“ und das „Parlament ein Witz“, befand Kasparow.

Das mag durchaus zutreffen – nur war der erste Vorsitzende des Komitees, der eine Präsidentschaftskandidatur 2008 nicht ausschließt, zu keiner Zeit ein leuchtendes Beispiel für Demokratie und Recht. Großmeister-Kollege Lew Chariton wirft Kasparow „im Kleinen den gleichen Despotismus“ und dieselbe „Zensurtyrannei auf seiner Schach-Website“ wie Putin vor. Für das Schachgenie hört der Kampf gegen die Diktatoren dieser Welt dann auf, wenn’s dem eigenen Geldbeutel nutzt: Einen Löwenanteil der 2,2 Millionen Dollar, mit denen Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi die anstehende WM des Weltverbandes Fide rettete, kassiert Kasparow gerne ab. Er ist nämlich fürs Finale gesetzt – während der offizielle Fide-Weltmeister, Ruslan Ponomarjow (Ukraine), ausgebootet wurde. Das übernahm sein neuer „Freund“ Kirsan Iljumschinow. Den Präsidenten der Fide und der Republik Kalmückien hatte Kasparow ein Jahrzehnt lang als Mafiosi beschimpft – bis er gegen Kramnik unterlag. HARTMUT METZ