Ganzes Gebiss, halber Preis

AUS BERLIN UND STETTIN KIRSTEN KÜPPERS
UND BERND HARTUNG (FOTOS)

Und als plötzlich an einem Montagmorgen um zehn vor acht diese fremde Frau am Frühstückstisch ihres Reihenhauses in Berlin-Reinickendorf sitzt, weiß Erika Kaiser nicht mehr, ob das wirklich eine gute Idee war mit der Zahnbehandlung in Polen. „Guten Morgen, ich bin Frau Stepniewska“, hatte die Frau gesagt, als sie mit einem Rollkoffer vor der Tür stand. Sie hatte gelächelt und mit den Absätzen ihrer hohen Schuhe gewippt.

Das Internet hat Frau Stepniewska zu Erika und Klaus Kaiser geführt. Genauer gesagt, hat die Angelegenheit mit dem Unfall ihren Anfang genommen. Mit dem Vorfall mit dem Hund und dem Zahn von Klaus Kaiser. Die Kaisers heißen in Wirklichkeit anders, aber Erika Kaiser arbeitet im öffentlichen Dienst, und sie fürchtet, „das Ganze könnte nach hinten losgehen“.

Der Unfall war eher eine Kleinigkeit: Klaus Kaiser hatte Einkäufe in den Kofferraum geräumt, einer der Hunde war an ihm hochgesprungen, Mann und Hund stießen mit den Köpfen zusammen. Hinterher wackelte im Mund von Klaus Kaiser ein Zahn. Eineinhalb Jahre ist das her. Der Anfang einer Entwicklung, an deren Ende Kaiser sagt: „Ich bin fertig mit deutschen Zahnärzten. Die seh’n mich nie wieder!“

Kaiser hat das Internet durchsucht, er hat Frau Stepniewska und ihre Firma „Medi-Invite“ gefunden. Fotos von einer gepflegten Klinik zogen über den Bildschirm, sie liegt in Stettin, auch eine Preisliste gab es. „Um die Hälfte ist das da billiger als bei uns“, erklärt er. „Ich hab angerufen und einen Termin gemacht. Ganz einfach.“

Jetzt sitzt Frau Stepniewska bei ihnen zu Hause am Tisch. Natürlich mögen es manche Leute ungewöhnlich finden, wenn man einen Zahnarzt im Ausland besucht und von einer Vermittlerin dorthin eskortiert wird. Aber in diesem Fall sieht die Angelegenheit doch sehr vertrauenerweckend aus, findet Kaiser. Frau Stepniewska ist extra aus Hannover gekommen, um ihren neuen Kunden in die Klinik zu begleiten, außerdem muss sie gerade sowieso nach Stettin, eine echte Polin, 40 Jahre alt, mit Schminke auf den Lidern und schwarz gefärbten Haaren. Kaiser lacht und guckt auf den Rollkoffer.

Seine Frau schweigt und hält die Hunde fest. Eine Zurückhaltung, mit der sich Kaiser jetzt nicht aufhalten kann, er sieht auf die Uhr, schnappt den Rucksack mit den Röntgenbildern. Es ist sein privater Protest, der hier beginnt. Seine Frau ist vielleicht nicht begeistert, aber Kaiser vollzieht heute seinen persönlichen Austritt aus dem deutschen Gesundheitssystem, er wird ihn sich nicht kaputtmachen lassen von irgendeinem Zweifel. Er fährt jetzt mit dieser Frau Stepniewska nach Polen und einer schmerzfreien Zukunft entgegen. Er ruft: „Ich bin zuversichtlich“, und läuft zum Parkplatz. Die Vermittlerin klettert in seinen blauen Caravan, Kaiser winkt. Die Haustür klappt zu.

„Vorher waren meine Zähne ja in Ordnung“, erklärt er im Auto. Klaus Kaiser ist 53 Jahre alt und eigentlich keiner, der offen rebelliert. Als Ausdruck seiner gesellschaftskritischen Haltung arbeitet Kaiser als Tischler in einer sozialen Einrichtung. Er raucht selbst gedrehte Zigaretten, hat eine Tätowierung auf dem Unterarm, in den Ferien fährt er auf dem Motorrad durch Italien – solche Sachen. „Ich kann eine Menge aushalten“, sagt er knapp.

Aber sein alter Zahnarzt hat ihm vier Zähne gezogen, eine kippelnde Prothese in den Mund gebaut und eine Wurzelbehandlung verpasst. Kaiser hat viele Packungen Schmerztabletten geschluckt, sein Zahnarzt hat ihm eine Gaumenplatte eingesetzt, die ihn verrückt gemacht hat, und nachdem ihm ein anderer Arzt alles wieder rausgerissen hat, sagte Kaiser vor einem halben Jahr: „Ich brauch erst mal eine Auszeit!“

Es ist kurz nach neun, an den Straßen klebt noch Frost. Der Caravan rollt an leeren Feldern und Wäldern aus dünnen Bäumen vorbei, es geht der Grenze entgegen. Kaiser ist noch nie in Polen gewesen. Aber bei Usedom, wo sie im Urlaub waren, gibt es einen Polenmarkt. Kaiser hat eine Jeans gekauft für zehn Euro. „Das muss man sich mal vorstellen: zehn Euro!“, ruft er. Frau Stepniewska sitzt auf der Rückbank und lächelt still.

Iwona Stepniewska lebt seit 17 Jahren in Deutschland, sie wohnt alleine mit ihrer Tochter in Hannover. Von Beruf ist Stepniewska Informatikerin. Im letzten Jahr wurde sie arbeitslos. Daraufhin hat sie eine Werbefirma gegründet und nebenbei mit der Vermittlung von Zahnbehandlungen und Schönheitsoperationen in Polen begonnen. Mit der Klinik in Stettin hat sie ausgehandelt, dass sie für jeden vermittelten Patienten eine Provision bekommt. Seit Januar läuft das Geschäft gut. Es ist wohl auch die Unzufriedenheit der Deutschen mit ihrer Gesundheitsreform, die sie jetzt bei Stepniewska anrufen lässt, dauernd, selbst spät in der Nacht und am Sonntag, sagt sie. „Auf einmal beginnen die Leute nachzudenken, ob sie sich nicht auch in Polen behandeln lassen können.“

Die Deutschen haben viele Fragen: Ob die Klinik neu ist, die Geräte modern sind, die Ärzte qualifiziert, was ein Brustimplantat kostet. Die Mieten sind in Polen niedriger, auch die Kosten für Personal, das macht eine Behandlung günstiger. „Ich will den Leuten nichts aufschwatzen“, sagt Stepniewska, „aber wenn sie wollen, organisiere ich alles.“ Es ist die entschlossene Hilfsbereitschaft einer allein erziehenden Mutter, die merkt, dass sie mit ihrer Geschäftsidee den richtigen Riecher hatte.

Um kurz vor elf steht Klaus Kaiser mit beiden Beinen auf polnischem Boden und ist restlos begeistert: „Also, super!“ Sie sind an Baumärkten und Fast-Food-Filialen vorbeigefahren, an Stettiner Plattenbauten. Sie sind in einem der vielen Kreisverkehre falsch abgebogen und haben doch noch die Klinik gefunden.

Frau Stepniewska hat ihren Rollkoffer über das Pflaster gezerrt, und jetzt sind sie in einer Umgebung angekommen, die überzeugt: Die Klinik ist ein moderner Flachbau, die Möbel sind sehr neu, im Behandlungszimmer läuft Musik von Eros Ramazotti, ein Mitarbeiter bringt Kaffee. Die Ärztin ist eine wunderbar strenge, junge Frau, die in Rostock Zahnmedizin studiert hat und fehlerloses Deutsch spricht. Und als Kaiser erzählt: „Ich wollte die Gaumenplatte in den Kanal schmeißen, es war der totale Horror“, lacht sie einmal sogar.

Es ist aber auch so, dass der Mund von Klaus Kaiser ein schwieriger Fall ist. Die Untersuchung dauert lange. Es müssen Röntgenbilder gemacht werden, ein Zahn hat Karies, die Kieferknochen sind nicht sehr stabil. Zwei Zähne müssen wahrscheinlich raus. Die Ärztin bespricht sich mit dem Kollegen.

In diesen Pausen steht Kaiser auf, vertritt sich die Beine. Die Räume der Praxis liegen still da. Keiner, der die Gediegenheit stört. Um einen umfassenden Service zu garantieren, werden keine anderen Patienten behandelt, wenn deutsche Kunden kommen, hat Frau Stepniewska erzählt. Etwa viermal die Woche sei das der Fall. So herrscht eine Leere, die etwas Privilegiertes hat. Nur im Treppenhaus steht ein Grüppchen deutscher Patientinnen, die zur Abteilung Plastische Chirurgie gehören. Sie stehen im kalten Flur und rauchen gegen die Angst. Klaus Kaiser stellt sich dazu und raucht mit.

Die Behandlung erreicht ihren Höhepunkt, als die Zahnärztin einen Abdruck von Kaisers Zähnen macht. Sie schiebt ihm eine kleine Schaufel mit grüner Masse in den Mund. Dann rechnet sie die Kosten vor, eröffnet Kaiser, dass eine Summe von etwa 12.000 Euro auf ihn zukommt, wenn er sich für die Lösung mit den Implantaten entscheidet. Kaiser schnauft leise, er kann nichts sagen. Wegen der grünen Masse im Mund. Vielleicht ist das ein Glück. 12.000 Euro für eine Zahnoperation ist eine Rechnung, die auch euphorische Menschen erschüttern kann. Selbst wenn sich in diesem Moment bei Kaiser ein Gefühl von Unsicherheit anzuschleichen drohte, hat die erzwungene Stillhaltezeit das Schlimmste verhindert. „Hört sich gut an“, sagt Kaiser, als er wieder sprechen kann.

Und spätestens, als sich dann alle wie alte Bekannte die Hände schütteln, Kaiser 20 Euro fürs Röntgen bezahlt hat und im Kopf noch einmal durchgerechnet hat, dass die Implantate in Deutschland doppelt so teuer wären, als Frau Stepniewska ihm eine gute Heimreise wünscht und die Ärztin verspricht, den Kostenvoranschlag zu schicken, da ist Kaiser schon sehr entschlossen wiederzukommen. Und wenn Polen erst zur EU gehört, muss seine Kasse für eine Behandlung in Stettin den gleichen Anteil zahlen wie für einen Zahnarztbesuch in Deutschland. Kaiser findet: „Das macht die Sache noch besser.“

Auf der Autobahn kommt die Entspannung. „Bisschen nervös ist man immer vorm Zahnarzt“, gibt Kaiser zu. Er schaltet die Heizung ein. Eine warme Zufriedenheit legt sich über den Nachmittag, ein angenehmes Einverständnis mit sich, den polnischen Nachbarn, der dortigen Gesundheitsversorgung, überhaupt dem ganzen Land. „Wahnsinn“, ruft Kaiser, als der Caravan an den Lastwagenschlangen an der Grenze vorbeizieht. „Wahnsinn!“ Er nestelt sein Handy aus dem Rucksack und ruft in Reinickendorf an. „Hallo, ich bin’s! Ich wollte nur sagen, alles in Ordnung, ich bin jetzt wieder auf deutschem Gebiet!“