Zwischen Traum und Wirklichkeit

Unsozial

Bundeskanzler Schröder verteidigte gestern einmal mehr die Sozialreformen der Agenda 2010 als gerecht. Seine schönen Worte klangen zwar gut, stimmten aber nicht. Die Agenda 2010 ist eine Umverteilung von unten nach oben, stellten Sozialwissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) fest.

Durch eine Steuerreform profitieren Höherverdienende in absoluten Geldbeträgen immer mehr als Geringverdiener. In der Broschüre des Finanzministeriums wird die Entlastung aufgelistet: Danach spart ein Single mit 60.000 Euro Jahresbruttoverdienst durch die Steuerreform 2004 immerhin 966 Euro. Ein Kleinverdiener mit nur 14.000 Euo wird nur um 118 Euro entlastet.

Kleinverdiener leiden auch stärker unter den Zuzahlungen zu den Gesundheitskosten, weil schon 10 oder 20 Euro mehr an Praxisgebühr oder an Zuzahlungen zu Arzneimitteln ihr Haushaltsbudget spürbar belasten. Auch Sozialhilfeempfänger müssen die Praxisgebühr entrichten.

Langzeitarbeitslose gehören gleichfalls zu den Verlierern der Agenda 2010, denn vom nächsten Jahr an bekommen sie nicht mehr die Arbeitslosenhilfe, sondern nur noch das Arbeitslosengeld II in Höhe der Sozialhilfe. Auch gering verdienende Haushalte von Paaren, in denen einer der beiden arbeitslos ist, gehören zu den Verlierern der Agenda 2010. Da vom nächsten Jahr an das Partnereinkommen bei Langzeitarbeitslosen strenger angerechnet wird, dürften viele verheiratete oder liierte Joblose gar kein Geld vom Arbeitsamt mehr bekommen.

Das Versprechen Schröders, dass „vom Heute ins Morgen“ verteilt wird, stimmt ebenfalls nicht: Die Rentenbeiträge werden nach allen Berechnungen weiterhin steigen, die Rentenansprüche aber sinken – für die Jüngeren lohnt sich die Einzahlung in das gesetzliche Rentensystem also weniger denn je. Die wichtigste Umverteilung „ins Morgen“ findet nach wie vor privat, nämlich über Erbschaften, statt. Und diese werden durch die Sozialreformen geschont: Es gibt weder Eingriffe in die Erbschaft- noch eine neue Vermögensteuer.

Die Wahrheit ist: Ein Versprechen, dass mit Sozialkürzungen eine „Umverteilung von unten nach oben“ nicht stattfindet, ist niemals haltbar. Denn ein Kürzungsprogramm für das Sozialsystem hilft immer den Beitragszahlern und verschlechtert die Situation der Leistungsempfänger, also der Schwächeren. BD

„Eine Politik des Umverteilens von unten nach oben wird es mit uns nicht geben. Umverteilen aber müssen wir, und zwar vom Gestern und Heute ins Morgen, in die Zukunft unsrer Enkel und unsrer Kinder“

Unstrukturiert

Gerhard Schröder wird sein Bedauern, dass er Rentner so stark belasten muss, dieses Jahr noch ein paar Mal wiederholen müssen. Vielleicht hat ja irgendwann jemand Mitleid. Denn spätestens, wenn die Rentner ab dem 1. April auch noch den doppelten Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen müssen, wird ihnen auffallen, dass sie die Sozialreformen bezahlen. Schließlich sind sie, weil kränker als der jüngere Rest der Bevölkerung, ja schon von der Gesundheitsreform mit Praxisgebühr und Co am meisten betroffen.

Nun finden auch die SPD-Sozialpolitiker, dass eine stärkere Belastung der Rentner zulässig ist, weil sie erstens mehr Geld haben und außerdem einen größeren Anteil der Gesundheitskosten verursachen als je zuvor. Tatsächlich sind die Rentnereinkommen im Gegensatz zu den Familieneinkommen im Schnitt gestiegen. Im Schnitt. Von der Gesundheitsreform werden jedoch auch die Rentnerinnen (und die wenigen Rentner) mit voller Wucht getroffen, die über nichts als eine schmale gesetzliche Rente verfügen.

Schwerlich werden sich alte wie junge Praxisgebühr-Empörte von den Kanzlerworten trösten lassen, dass wir „im Gesundheitswesen zu strukturellen Verbesserungen kommen. Bei Arztbesuchen und Überweisungen, aber auch bei Medikamenten und Aufbau von Gesundheitszentren. Auf diese Weise können Milliarden Euro eingespart werden.“

Vermutlich hat der Redner selbst auch nicht verstanden, was er meint. Immerhin aber wird erstmals Geld dafür bereitgestellt, die Versorgung in Krankenhäusern mit der Versorgung durch niedergelassene Ärzte zu verzahnen. Wie sich hier die Lobbys das Geld aufteilen und wie viele Strukturen sie verändern werden, ist freilich offen.

Niemand sollte dabei seine Hoffnungen zu hoch spannen. Denn eine der wichtigsten strukturellen Reformen, mit denen das Gesundheitssystem vor Ineffizienz und Abzocke bewahrt werden könnte, wurde Opfer der Konsensverhandlungen: die Entmachtung der Kassenärztlichen Vereinigungen, der Standesvertretung der niedergelassenen Ärzteschaft.

Erfolgreich vermied es Schröder gestern, über den noch anstehenden Ärger bei Gesundheit und Pflege zu reden: Weder das schwierige Kapitel „Extraversicherung des Zahnersatzes“ fand Erwähnung noch die Frage, wie eine Reform der schwächelnden Pflegeversicherung aussehen könnte. „Gesundheit beginnt bei der Vorsorge“? Nun, die Reserven der Pflegeversicherung sind 2006 aufgebraucht. UWI

„Keine Entscheidung ist mir so schwer gefallen wie die, Rentnerinnen und Rentner stärker zu belasten“

Unrealistisch

Bei den Häuslebauern sparen, den Jüngsten geben – mit dieser Umverteilung will der Kanzler der gebärunwilligen Nation endlich geben, was anderswo in Europa selbstverständlich ist: genügend Krippenplätze. Doch Geld allein wird das Problem nicht lösen.

Zunächst die Fakten. Sie sind so bekannt wie beschämend: Nur drei von hundert westdeutschen Kindern unter drei Jahren haben die Chance auf einen Krippenplatz. Im Osten hingegen sind es fast vierzig Prozent.

Der Vorschlag Schröders aber wird die Verhältnisse nicht angleichen. Selbst wenn Millionen in die Gemeindekassen flössen – wie will der Kanzler die Kommunen zwingen, das Geld auch wirklich in Kinderkrippen zu investieren?

Dafür bräuchte es die Kraft der Justiz. Wenigstens einigen Eltern müsste die Regierung einen Kita-Anspruch gesetzlich garantieren: alleinerziehenden oder Doppelverdienern. Einen solchen Gesetzesanspruch aber will Familienministerin Renate Schmidt (SPD) keinesfalls einführen. Ob die Kommunen aber den Kanzlerappellen folgen, wenn in ihren Kassen Millionen fehlen, ist zweifelhaft.

Die Kita-Frage – sie ist auch ein Strukturproblem. Betreuung von morgens bis abends ist nur im Osten selbstverständlich, fast alle West-Kitas hingegen aber orientieren sich am Modell der Nebenjob-Mutti: Sie hüten Kinder nur vormittags, eignen sich für Hausfrauen, Arbeitslose und Minijobber. Will der Bundeskanzler erreichen, dass „alle Frauen, die arbeiten wollen, auch arbeiten können“, muss es mehr Vollzeitbetreuung geben.

Um die Lücke zu füllen, die in der Rundumversorgung klafft, will der Kanzler auch „qualifizierte Tagesmütter“ gewinnen. Doch noch hat niemand definiert, was eine Teilzeitmutter qualifiziert. Dass sie einen Garten hat? Selbst schon Kinder geboren hat? Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn Laien einspringen, wo gelernte Pädagogen erziehen sollten? Die Tagesmutter ist also weniger die Vision, „damit Kinder schon im Vorschulalter das Lernen lernen“, wie der Kanzler es fordert, als ein Zugeständnis an den Geldbeutel – und die Ideologie. Denn nach wie vor wettern Skeptiker, allein bei der Mutter sei ein Kleinkind optimal betreut. Die Tagesmutter gilt Traditionalisten als Kompromiss: Wenn eine Familie ihr Kind aus dem Haus gibt, dann wenigstens an eine Frau mit Ersatzmutterkompetenz. COS

„Es ist sehr viel sinnvoller, das für die Eigenheimzulage verwendete Geld für Innovationen auszugeben. Die Kommunen könnten mit ihrem Anteil die Betreuung der Kinder verbessern“

Unzureichend

Der Kanzler sagt, er will die Bildung fördern. Das klingt schön. Noch schöner ist: Schröder sagt es sogar ein bisschen konkreter als bisher. Er möchte die Eigenheimzulage abschaffen und die eingesparten 4 Milliarden Euro in Schulen, Hochschulen und Forschungsinstitute stecken. Außerdem soll die Bundesbank ihre Goldreserven verkaufen und einen Teil der Erlöse „nachhaltig“ in kluge Köpfe investieren, was wohl heißen soll: in eine Stiftung.

Bloß: Mit dem Versuch, die Eigenheimzulage abzuschaffen, ist die Bundesregierung erst vor drei Monaten gescheitert. Die CDU/CSU blockierte das Vorhaben im Bundesrat, am Ende einigte man sich auf eine Kürzung um rund 30 Prozent. Und mit dem Geld wollte die SPD damals nicht die Bildung fördern, sondern die Steuerreform finanzieren.

Obendrein kämen die Mehreinnahmen dem Bund nur zu 42,5 Prozent zugute, über den Rest verfügen Länder und Kommunen. Schröder kann zwar mit gutem Beispiel vorangehen – aber er kann die klammen Finanzminister in München oder Magdeburg, Hannover oder Hamburg nicht dazu zwingen, das Geld tatsächlich für Bildung auszugeben. Womöglich führen die Vorgaben aus Berlin sogar zu einer Trotzreaktion – klagte doch der Stuttgarter Regierungschef Erwin Teufel erst in dieser Woche über ein angebliches „Zentralismusproblem“.

Zum Nullsummenspiel könnte dagegen der Verkauf der Goldreserven geraten. Schließlich steht die Bundesbank schon länger unter dem Druck, sich endlich von einem Teil des unproduktiven Edelmetalls zu trennen. Auf die Idee einer Bildungsstiftung verfiel Bankpräsident Ernst Welteke nur, um die Kontrolle über das Geld zu behalten. Würde der geschätzte Erlös von rund 4 Milliarden Euro in die Schuldentilgung gesteckt, dann käme das künftigen Generationen ebenfalls zugute.

Überdies kann die geplante Stiftung selbst bei einer Rendite von 5 Prozent allenfalls 200 Millionen Euro jährlich ausschütten. Reichlich wenig angesichts Schröders hoch gesteckter Ziele, mit einem „breit gefächerten Verständnis anderer Sprachen“ die offene Gesellschaft zu fördern, die „skandalöse Benachteiligung“ von Migrantenkindern zu beenden oder die Wirtschaft „mit Spitzenqualität und Spitzentechnologie“ anzukurbeln. RAB

„Bildung ist der Schlüssel zu Fortschritt und Sicherheit im 21. Jahrhundert. Es gibt nur eine Antwort auf die Frage, womit wir in der globalisierten Ökonomie gutes Geld verdienen wollen: mit Spitzenqualität und Spitzentechnologie. Und ohne ein breit gefächertes Verständnis anderer Sprachen und Kulturen werden wir unsere offene Gesellschaft nicht weiter entwickeln“