Zerklüftungen

Hamburgs Partnerstadt St. Petersburg feiert seinen 300. Geburtstag mit Pomp für die Elite. Der Arbeiter-Samariter-Bund aber spendet eine Fluchtburg für die tausenden von Straßenkindern

von LENA ULLRICH

Ab heute feiert St. Petersburg sein 300-jähriges Jubiläum. Die zweitgrößte russische Metropole empfängt ihre Gratulanten – darunter auch eine Delegation der Partnerschaft Hamburg mit Bürgermeister Ole von Beust (CDU) – mit zahlreichen Konzerten, Theateraufführungen, Vorträgen und Bällen. Das Kulturprogramm ist vielseitig und abwechslungsreich, wie die bewegte Geschichte der Stadt. Die großen geschichtlichen Umbrüche der vergangenen 300 Jahre haben St. Petersburg zu dem werden lassen, was es heute ist: Eine Stadt der Gegensätze.

Die Prachtbauten an der vier Kilometer langen Newsky Promenade erinnern an den Reichtum der Zarendynastie. Nur zwei Metrostationen weiter lebte Dichter Fjodor Dostojewski. In seinen Werken beschreibt er das Leben der Arbeiter. Die großen Schiffswerke und Textilfabriken am Hafen wurden zum Symbol ihrer Macht: Hier leiteten Arbeiterstreiks im Jahr 1905 die russische Revolution ein. Mit der Wende zur Marktwirtschaft hat sich das Stadtbild erneut verändert: Neben den Zarenpalästen und den Graubauten des Sozialismus etablierten sich Boutiken und Konzerne.

So zerklüftet wie die Architektur, ist auch die Gesellschaft. Die weißen Nächte von St. Petersburg verbringt ein Teil der Bevölkerung in den restaurierten Museen und Konzertsälen. Andere suchen in Bahnhöfen, Kellern und Versorgungsschächten Unterschlupf. Wohnungsnot und jahrelange Arbeitslosigkeit führten viele St. Petersburger Familien in den sozialen Abstieg. Zurzeit leben rund 30.000 Kinder im Alter zwischen sieben und 16 Jahren auf der Straße. Viele sind ihren zerütteten Familien entflohen. Die wirtschaftliche Notlage der Familien lässt Kinder häufig zu Opfern von Gewalt und Vernachlässigung werden.

St. Petersburg hat nur begrenzt die Mittel und den Willen, um Straßenkinder aufzufangen. So haben zehn Prozent der Kinderheime und Internate keine vernünftigen sanitären Anlagen, berichtet die Internationale Gemeinschaft für Menschenrechte in ihrem Jahresbericht 2001. In St. Peterburg gibt es bislang nur ein Krankenhaus, das Straßenkinder aufnimmt. Hier fehlt es an allem: Medikamenten, Kleidung, Spielzeug und Geld für qualifiziertes Personal.

Nach Umfrageergebnissen des Russischen Zentrums für Meinungsforschung kritisieren mehr als ein Drittel der St. Petersburger die kostspieligen Vorbereitungen der Jubiläumswoche. Und 59 Prozent sind der Meinung, das Jubiläum der Stadt sei ein Fest nur für die Elite. „Unsere Hauptgeschenke zum Jubiläum der Stadt sind restaurierte Säle der Eremitage und des Hauptstabs. Zudem wird eine neue Fondsaufbewahrungsstätte eröffnet,“ sagt Staatseremitage-Direktor Michail Piotrowski.

Die Regierung nimmt das Jubiläum zum Anlass für Fassadenkosmetik. Russlands befreundete Staaten unterstützen mit großzügigen Gesten. Die Bundesregierung stiftet 200.000 Euro zur Restauration einzelner Räume der Eremitage. Der russischen Staatsphilharmonie schenkt sie eine Orgel im Wert von einer Million Euro.

Hamburg hat bereits einen Konzertflügel nach St. Petersburg verschifft. Der deutsche Lichtdesigner Gert Hoff wird in der Jubiläumswoche die Architektur der Stadt mit Feuerwerk, Laserstrahlen und Scheinwerfern inszenieren. Im Schatten dessen übergeben Bürgermeister Ole von Beust und Kultursenatorin Dana Horáková am Montag ein neues Dienstleistungszentrum an den russischen Arbeiter-Samariterbund.

Die „Fluchtburg“, ein Treffpunkt für Straßenkinder, ist ein Projekt des ASB Hamburg. Die Kinder können hier zweimal täglich essen und werden mit Kleidung versorgt. St. Petersburger Künstler betreuen die Kinder und fördern ihre Bildung. „Wir arbeiten an einem Konzept, um die Kinder in russischen Pflegefamilien unterzubringen“, sagt ASB-Vorsitzender Günther Ahrendt: „Die Fluchtburg ist nur ein Anfang.“