Küssen in Barmbek

Großartige Momente: Das Experimentalfestival „Feuer + Flamme“ jongliert mit Genres und Wirklichkeiten

Gob Squad, She She Pop, plus Arbeiten von Katharina Oberlik und Jochen Roller – die Gießener Schule scheint beim Experimentalfestival „Feuer + Flamme“ auf Kampnagel fast ein wenig überrepräsentiert. Personelle Überschneidungen bei der Gruppenzugehörigkeit der Absolventen des oft gelobten Studiengangs für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen vervielfältigen einmal mehr die Handschrift dieser Sprache, die so virtuos mit Genres, Medien und Wirklichkeiten jongliert. Und daher so gut ins diesjährige Konzept passt.

Die Gruppe Gob Squad genießt schon Kultstatus, bringt dank ihrer englischen Mitglieder eine gehörige Prise britischen Humor ins Spiel. Mit Super Night Shot, einer Instant-Video-Reise, ist ihr ein genialer Streich gelungen. Eine Stunde schwärmen Berit Stumpf, Johanna Freiberg, Elyce Semenec und Simon Will mit zeitsynchronisierten Kameras aus, um anschließend ihre eingefangenen Bilder und Begegnungen ungeschnitten für das Publikum nebeneinander zu einem Breitwandepos zu vereinen.

Zu Gast auf Kampnagel suchen sie ihr Glück auf Barmbeks Straßen. Und werden fündig, auf ihrer spontan improvisierten Suche nach dem besten Ort, dem richtigen Zeitpunkt, der perfekten Inszenierung, die treffsicher das Großartige im Banalen aufspürt. An diesem Abend ist ihre Heldin ein junges Mädchen, das noch aufrichtig an großartige Momente glaubt und sich neugierig zum finalen Leinwandkuss verführen lässt, auf ihrem Heimweg zwischen Supermarkt und Wohnsiedlung – in Barmbek und eben nicht in Hollywood.

Kontrastreich fiel der Festivalauftakt aus. Auf der Suche nach dem Augenblick der Wahrheit bearbeiten die Hamburger Sascha Demand und Ralf Kleinemas im Bereich der Neuen Musik ein eher steiniges Feld. Der Raum der Probebühne inszeniert das Prozesshafte ihrer Arbeitsreihe Deklination / Digitale Schatten mit verschiedenen Gästen. Ein Feldbett mit zerwühlten Decken, eine aufgerissene Kekspackung drängen sich irritierend in das Bild einer suggerierten Einheit von Leben und Kunst. Der Künstler sitzt am Laptop. Soundtüftler boris d hegenbart reizt die technischen Finessen seines Computers aus, vereint rhythmische Impulse in einem anschwellenden, die Atmosphäre verdichtenden Dauerton.

Snare Drum und Mezzospran durchkreuzen sich in Sascha Demands uraufgeführter Komposition Deklination. Die Sängerin Mona Spägele zischt, haucht, schrillt die abgehackt in alle Tonlagen springenden Laute, bis sich in ihrer hochkonzentrierten Performance die sperrige Partitur in ein architektonisches Klanggebilde verwandelt.

Sammlung und Neuordnung von Material, die Reibung von Gegensätzen ist Sinn und Zweck von Demands und Kleinemas‘ Experimentalreihe, die am Donnerstag mit einer Tanzperformance endet. Marga Wolff

„Feuer + Flamme“: Aufführungen bis 8. April, Kampnagel