Ein Test für menschliche Körper

Im Eiskunstlaufen der Frauen wird allenthalben an neuen Sprüngen und Elementen gefeilt. Ob Michelle Kwan diese Entwicklung mitmachen will, weiß sie noch nicht. Bei der WM in Dortmund wird die fünffache Weltmeisterin Dritte

AUS DORTMUND MATTI LIESKE

Es sind schon komische Dinge, die Michelle Kwan gelegentlich bei großen Eiskunstlauf-Entscheidungen widerfahren. Bei den Olympischen Spielen in Nagano hätte sie fast ihre Kür verpasst, weil der Weg zur Halle von Sicherheitskräften blockiert war. Den Stau hatte der japanische Kaiser verursacht, der sich das Finale im Eiskunstlauf anschauen wollte. Am Samstag in Dortmund war es kein Kaiser, der ihren Auftritt behinderte, nicht mal ein Bundeskanzler, sondern ein anderer merkwürdiger Mann, der sich, mit Spitzenkleidchen und Taucherbrille bewehrt, auf die Eisfläche schummelte. Kwan schaute erst interessiert und verwundert dem Treiben zu, bevor ihr als guter Kalifornierin der Gedanke kam: Vielleicht ist der Bursche ja bewaffnet. Hurtig eilte sie vom Eis.

„Man kann sich schließlich schlecht auf eine Kür vorbereiten, wenn auf einen geschossen wird“, erklärte sie später, als sie den ihr eigenen trockenen Humor wieder gefunden hatte, der die 23-Jährige so Talkshow-kompatibel macht. Der Mann auf dem Eis entledigte sich seiner Kleider und entblößte den Schriftzug eines Online-Casinos auf seiner Brust. „Als er sich auszog, wusste ich: alles okay“, meinte Michelle Kwan lakonisch.

Nach einer kleinen Slapstick-Einlage unter Mitwirkung der spärlich vertretenen Security war das Eis endlich von allen artfremden Personen gesäubert, und Michelle Kwan, die eine Woche hinter sich hatte, in der wenig so lief, wie sie sich das erhofft hatte, kehrte zurück. Nur auf Rang vier lag die Topfavoritin nach einem Sturz in der Qualifikation und einem nicht optimalen Kurzprogramm, bei dem sie auch noch einen lächerlichen Punktabzug wegen zwei Sekunden Zeitüberschreitung bekommen hatte. Die fünfmalige Weltmeisterin ist jedoch routiniert genug, sich auch von allerlei Widrigkeiten nicht beirren zu lassen, lief eine ebenso fehlerfreie wie hervorragende Kür und erkämpfte sich noch Bronze. Ihre Landsfrau Sasha Cohen konnte sie jedoch nicht mehr gefährden und schon gar nicht Shizuka Arakawa, die neue Weltmeisterin, die nach Musik aus Puccinis „Turandot“ nicht nur Höchstschwierigkeiten in Serie präsentierte, sondern auch im künstlerischen Ausdruck nur minimal hinter der eleganten Titelverteidigerin Kwan zurückstand.

Mit Arakawa hatte vor dieser WM absolut niemand gerechnet. Schließlich ist die Japanerin auch schon 22 und in den letzten Jahren kaum aufgefallen. Dabei war sie Ende der Neunziger die talentierteste Nachwuchskraft ihres Landes und schon 1998 bei Olympia im eigenen Land dabei, wo sie den 13. Platz belegte. „Ach, damals war ich jung“, erzählt sie heute mit sanftem Lächeln, „ich hatte viele andere Interessen und habe mich nicht so sehr auf das Eiskunstlaufen konzentriert.“ Diese etwas unjapanische Einstellung hat sich inzwischen radikal geändert. „Ich bin reifer und ehrgeiziger geworden“, sagt Arakawa. So ehrgeizig, dass sie vor einigen Monaten sogar ihre Heimat verließ und sich der Gruppe von Erfolgstrainerin Tatjana Tarasowa in den USA anschloss. „Sie macht die Weltmeister“, lautet die schlüssige Begründung der Japanerin. Ein Satz, den Sasha Cohen nicht so gern hörte. Die hyperzierliche Silbermedaillengewinnerin, die vor der Kür noch führte, hatte nämlich just Tarasowa verlassen und sich in die Obhut von Robin Wagner begeben, welche wiederum Sarah Hughes 2002 zum Olympiasieg geführt hatte. „Schon witzig, diese ganzen Trainerwechsel“, meinte die 19-Jährige leicht resigniert.

Michelle Kwan war derweil mit ihren Gedanken noch bei der Taucherbrille. „Das ist meine elfte WM, und es geschehen immer noch neue Dinge“, sagte sie, „vielleicht sollte ich doch nächstes Jahr laufen, um zu sehen, was dann passiert.“ Wahrscheinlich ist ein Start bei der WM in Moskau eher nicht. Die endgültige Entscheidung über das Ende ihrer Karriere ist zwar noch nicht gefallen, der Verlauf dieser WM könnte die Tendenz zum Aufhören jedoch bestärkt haben. Zwei große Ziele sind Kwan geblieben: der sechste WM-Titel, mit dem sie alleinige Rekordhalterin wäre, und der Olympiasieg. Den hatten ihr zweimal jüngere Landsleute weggeschnappt, die ihre Karriere inzwischen schon wieder beendet haben – 1998 war es Tara Lipinski, 2002 Sarah Hughes. In Dortmund bekam Michelle Kwan vorgeführt, wie schwer es sein wird, auch nur eines der Ziele zu erreichen. Sie hat es nicht mehr bloß mit Sprungkünstlerinnen wie Irina Slutskaja, Lipinski, Cohen oder Hughes zu tun, die sie meist durch die B-Note in Schach halten konnte, sondern mit einer ganzen Reihe von Nachwuchskräften aus aller Damen Länder, die athletisch und künstlerisch höchstes Niveau bieten. Neben Japans bisheriger Nummer eins, Fumie Suguri (5.), demonstrierten bei dieser WM auch die ungarische Europameisterin Julia Sebestyen (7.), die Italienerin Carolina Kostner (6.), die Russin Elena Sokolowa (9.), die Finnin Susanna Pöykiö (10.), die Kanadierin Joannie Rochette (8.) und die 16-jährige Japanerin Miki Ando (4.) klares Medaillenpotenzial.

Michelle Kwan weiß genau, was auf sie zukommt, sollte sie bis Olympia 2006 weitermachen: „Das Eiskunstlaufen wird besser, man muss mithalten.“ Ähnlich wie bei den Männern wird allenthalben an neuen Sprüngen und Elementen gefeilt. Die Kombination aus drei Dreifachsprüngen beherrschen bereits einige, Miki Ando hat sogar einen Vierfachsprung im Repertoire, den sie in Dortmund jedoch nicht wagte. „Das wird ein Test für den menschlichen Körper“, sagt Kwan. Ein Test, den ihr Körper möglicherweise nicht besteht. „Bei jedem Sprung im Training spüre ich einen Schlag in der Hüfte“, so die 23-Jährige. Das hört sich nicht so an, als sei noch gewährleistet, was sie als wichtigstes Element des Eiskunstlaufens ansieht: „Spaß haben“.