US-Atomstandards erschreckend schlecht

25 Jahre nach dem Beinahe-Unfall im Atomkraftwerk Harrisburg treibt die US-Regierung wieder den Bau neuer Atomanlagen voran. Dabei wächst zugleich die Kritik an der mangelnden Sicherheit bestehender Reaktoren

WASHINGTON taz ■ Ein Vierteljahrhundert ist seit der Beinahe-Katastrophe im Atomkraftwerk von Harrisburg in Pennsylvania vergangen. Und ausgerechnet im Jubiläumsjahr sieht sich die US-amerikanische Atomwirtschaft wachsender Kritik über die Sicherheit ihrer veralteten Reaktoren ausgesetzt. Die Angst vor einem Super-GAU liegt nicht nur in den zum Teil maroden Anlagen begründet, sondern auch im mangelnden Schutz vor Terroranschlägen.

Zwei Ereignisse haben den Befürchtungen der Atomkraftgegner jüngst neue Nahrung gegeben: An einem Atommeiler im Bundesstaat Ohio wurden massive Korrosionsschäden festgestellt. Säure in der Kühlflüssigkeit hatte ein fußballgroßes Loch in die Reaktorwand gefressen. Das Kraftwerk wurde abgeschaltet. Ein staatlicher Untersuchungsbericht zur Sicherheit der insgesamt 103 im Betrieb befindlichen Nuklearanlagen vor Anschlägen kam überdies zu dem Ergebnis, dass „die von der US-Atomaufsichtsbehörde vorgeschriebenen Standards erschreckend schlecht“ seien.

Die Atomlobby wiegelt jedoch ab. Das muss sie auch, schließlich hat sie sich zum Ziel gesetzt, den Neubau von Reaktoren – seit dem Unfall am 28. März 1979 ging kein Meiler mehr ans Netz – wiederaufzunehmen. Die Bush-Regierung, noch nie verlegen, wenn es um Handlangerdienste für die Energiewirtschaft geht, zeigt sich unbeeindruckt durch die Attentate vom 11. September und Sicherheitsbedenken ihrer eigenen Beamten: Sie will den Bau neuer Atomkraftwerke vorantreiben. Ein umfangreiches Gesetzespaket zur Energiepolitik, das die Demokraten im Kongress bislang blockieren, soll Kraftwerksbetreiber durch Steueranreize zum Neubau ermuntern. Die Regierung hofft, dass so spätestens 2010 der erste neue Meiler ans Netz geht.

Drei neue Standorte hat die Atomindustrie hierfür im Visier. Für alle laufen die ersten Genehmigungsverfahren bei der zuständigen Aufsichtsbehörde. Das Energieministerium in Washington subventioniert 50 Prozent der Kosten für den Lizenzantrag – ein weiteres deutliches Zeichen, wessen Interessen die Bush-Regierung vertritt. Zudem unterstützt sie den Wunsch vieler Energieunternehmen, die Betreiberlizenzen für ihre veralteten Anlagen um zwanzig Jahre zu verlängern.

Altersschwäche, Verschleiß und das Arbeiten an der Kapazitätsgrenze erhöhen nach Ansicht von Experten die Unfallgefahr. „Dieser Trend ist besorgniserregend“, sagt David Lochbaum von der Union of Concerned Scientists. Der jüngste Fall in Ohio sei ein Alarmsignal. In den vergangenen Jahren hätten die Betreiberfirmen keine wesentlichen technischen Veränderungen vorgenommen, um die Anlagensicherheit zu erhöhen.

Nach dem 11. September wurde der Zugang zu Atomkraftwerken mittels Barrieren und mehr Wachpersonal erschwert. Auf ihren Betriebsgeländen gilt permanent Code Orange, die zweithöchste Sicherheitsstufe. Katastrophenschutzübungen hätten jedoch gezeigt, wie schlecht die Anlagen vorbereitet und geschützt seien, sagt Jim Riccio von Greenpeace. Solche Übungen würden wochenlang vorab angekündigt, so dass die Betreiber ausreichend Zeit hätten, kurzfristige Maßnahmen zu ergreifen, um die vorgeschriebenen Standards zu erfüllen. „Das ist nicht besonders beruhigend.“

Umweltorganisationen propagieren daher den Ausstieg aus der Atomkraft als beste Sicherheitsstrategie. Als ersten Schritt fordern sie, die Kraftwerklaufzeiten nicht mehr zu verlängern. Da der öffentliche Druck jedoch gering ist, besteht allenfalls die Hoffnung, dass der Kongress die umstrittenen Energiegesetze im Wahljahr nicht verabschieden wird. Wie sich ein Regierungswechsel im Weißen Haus auf die Atompolitik auswirken würde, ist ungewiss. Bush-Herausforderer John Kerry, der von Umweltgruppen gelobte Senator, vertritt bislang nur schwammige Positionen. Offenbar will er es sich weder mit moderaten Republikanern noch mit Wechselwählern verderben. MICHAEL STRECK